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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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haben immer noch kein Vertrauen, Sie haben immer noch einen krummen Rücken, die Angst frißt Ihnen immer noch die Haare vom Kopf.
    Stimmt doch gar nicht, Sie dreckiger Lügner. Hier, der Beweis.
    Er schwieg.
    Er war still.
    Er setzte den dunkelblauen Hut auf.
    Er ging zurück ins Zimmer und stellte sich vor das einen Meter fünfzig mal einen Meter große Poster, das er aus dem mit dem geliehenen Apparat geschossenen Foto auf Papier hatte drucken lassen.
    Nach einer Weile streckte er die Hand nach dem See mit den zwei weißen Flecken aus, die vielleicht Schwäne waren.
     
    We live and we die, we know not why. But I’ll be with you, when the deal goes down.
    Seit neun Uhr abends saß er vor den grünen Hügeln mit den dürren Birken und hörte Dylan und spielte die Songs wieder und wieder und bewegte sich nicht. Und alles floß aus ihm heraus und floß in ihn zurück und brachte alles mit, was je ein Wanderer achtlos in den Bach am Wegesrand geworfen hatte.
    The midnight rain follows the train, and we all wear the same thorny crown.
    Er hatte es versucht. Jedesmal, wenn er in dieser Nacht ein bestimmtes Lied hörte, war er vor die Tür getreten, ins Treppenhaus, entschlossen aufzubrechen, mit dem Hut auf dem Kopf und dem bis zum Kragen zugeknöpften Mantel, guten Mutes.
    Viermal hatte er es sogar bis auf die Straße geschafft und einmal sogar, zwei junge Frauen, Mädchen, anzusprechen. Er sprach sie nur an, um seine Stimme zu testen, er sagte: Grüß Gott, ich suche das Postamt, können Sie mir bitte weiterhelfen? Sie sahen ihn an, als hätte er etwas anderes, Ekelhaftes gesagt. Er wiederholte seine Frage, und die Mädchen grinsten sich an. Er hatte nicht gewußt, daß Mädchen so grinsen können, es war ein Männergrinsen. Am liebsten hätte er sie zurechtgewiesen. Zum drittenmal sagte er – und er beugte sich näher zu ihnen hin: Grüß Gott, ich suche das Postamt, können Sie mir bitte helfen? »Was ist?« erwiderte das eine Mädchen laut, und das andere betrachtete ihn wie eine Witzfigur, mit vor Verachtung glänzenden Augen. »Sie müssen deutlich reden«, sagte das erste Mädchen. Und er brachte seinen Mund nicht zu.
    Soul to soul our shadows roll, but I’ll be with you when the deal goes down.
    Dann hatte das sprechende Mädchen den Kopf geschüttelt und eine abweisende Handbewegung gemacht. Und er war weggerannt, mit wackligen Schritten und schlenkernden Armen, wie damals auf dem Studiogelände. Außer Atem und durchtost von Panik, wie damals, sank er vor dem Haus auf die Knie und hustete aus vollem Hals und rang nach Luft. Und erst, als er wieder – unendlich lange Zeit später und am ganzen Körper schweißnaß – vor dem Poster saß und über Kopfhörer Dylan hörte, wurde ihm bewußt, daß er auf der Straße kein Wort hervorgebracht und sich nur eingebildet hatte zu sprechen. Und daß nicht die Mädchen schuld waren, sondern er.
    Sondern er und er und er.
    So blieb er zu Hause und sagte die Termine im Funkhaus ab und ging nicht ans Telefon und verbrachte die meiste Zeit des Tages in der Stille der Osterseen.
    Dylans Stimme war ihm seit seinem dreizehnten Lebensjahr vertraut. Jedesmal in all den Jahren, wenn er glaubte zu sterben, erklang diese Stimme, und er starb dann doch nicht. Und so wurde er dreiundfünfzig Jahre alt, und die Stimme sang immer noch, als wäre sie erhaben über alles Sterben.
    Darüber staunte Walter Madaira gerade, als es an der Wohnungstür klopfte. Aber er hörte nur Dylans Stimme. Sie war alles von draußen, was ihm geblieben war.
    Andere, dachte er, hatten weniger.
    Und in dieser großen Sekunde verschonte ihn die Angst.
     
    In einer Pause zwischen zwei Songs nahm Madaira die klobigen Kopfhörer ab und stützte den Kopf in die Hände. Die mysteriösen Verse klangen in ihm nach, die Melodien hatten ihn in andere Zeiten geleitet, fernab der Kindheit und der Gegenwart. Verloren in ungeahnter Geborgenheit glaubte er zunächst, das Klingeln gehöre zur Musik. Bei geschlossenen Augen horchte er in die Ferne und schreckte auf, als jemand wuchtig gegen die Tür schlug.
    Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Seine Uhr, die er tagelang nicht getragen hatte, war stehengeblieben. Er hätte im Schlafzimmer auf den Wecker sehen können.
    Das Klopfen hörte nicht auf. Dann schrillte wieder die Klingel.
    Sein Rücken schmerzte, sein Nacken war verspannt, im rechten Bein verspürte er einen leichten Krampf. In seinem Kopf herrschte ein Brummen, das ihn auf dem Weg zum Flur wanken

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