Hinter blinden Fenstern
Meistens haben wir am Abend noch mal telefoniert, an dem Abend aber nicht.«
»Das weiß ich«, sagte Fischer. »Lindas Handy ist ausgeschaltet, wir können es nicht orten.«
»Scheißtechnik«, sagte Ellen.
Fischer hatte den Eindruck, das Mädchen unterdrücke mit aller Kraft ihre Traurigkeit und wollte unbedingt vermeiden, daß ihr die Tränen kamen. Sie preßte die Lippen aufeinander und starrte zu Boden und stemmte die Arme auf den Stuhl.
Nachdem Fischer das Gespräch beendet hatte, wartete Ellen ungeduldig auf den Ausdruck des Protokolls.
Fischer ging nach nebenan ins Büro von Oberkommissar Micha Schell, der wie er zur »Soko Linda« gehörte.
»Merkwürdiger Anruf«, sagte Schell und blätterte eine Seite auf seinem Schreibblock um. »Kennst du einen Verein mit dem Namen AMM? Ich auch nicht. Der achtsame Mitmensch. Wenn ich das richtig verstanden habe, was mir der Mann am Telefon erklärt hat, angeblich der Vorsitzende, dann ist dieser Verein eine Mischung aus Nachbarschaftshilfe und Stasi. Die spionieren ihre Nachbarn aus, weil sie verhindern wollen, daß ein Verbrechen passiert. Daß zum Beispiel Kinder zu Tode kommen. Der Mann behauptet, es gibt einen Verdächtigen in seinem Haus, er, der Ober-AMM, hält es für möglich, daß der Verdächtige etwas mit Lindas Verschwinden zu tun hat, daß das Mädchen möglicherweise bei dem Mann in der Wohnung ist.«
»Der achtsame Mitmensch«, sagte Fischer. »Waren die Kollegen schon dort?«
»Sie haben Sturm geklingelt«, sagte Schell. »Niemand öffnet. Der Mann heißt …«
14 Und niemand, der ihm widersprach
F rohes neues Jahr, Herr Madaira, ich wünsche Ihnen Gesundheit und Gelassenheit und stets eine vernehmliche Stimme. Vernehmlich? Müßte ich Ihnen nicht eine vernehmbare Stimme wünschen, zum Vernehmen allzeit? Damit die Leute Sie hören. Hören können, Herr Madaira. Danke. Danke.
Wie still es ist.
Er blickte auf das Panorama einer Landschaft, auf einen grünen Hang, über dessen Kamm ein Zaun verlief, dahinter grasten drei Kühe, Krähen flogen über sie hinweg. Schilfwiesen säumten drei kleine Seen, in denen sich die grün und rotbraun gefärbten Bäume des Mischwalds im Hintergrund spiegelten. Vereinzelt ragten weiße, magere Birkenstämme in den blaßblauen, von fernen verspielten Wolken durchzogenen Himmel. Die Sonne, die Madaira nicht sehen konnte, tauchte das Schilf, das Gras, die Büsche und den horizontweiten Wald in mildes Herbstlicht, das unverändert blieb.
Welche Vorsätze haben Sie gefaßt, Herr Madaira? Darf ich raten? Sie möchten das Haus verlassen und nicht länger auf das Poster an Ihrer Wand starren und die wirklichen Dinge wieder anpacken. Termine wahrnehmen, zu denen Sie pünktlich erscheinen, ohne vor der Eingangstür zu zögern. Das ist gut. Und welche Vorsätze noch, Herr Madaira? Mal wieder zum Friseur gehen. Haha.
Er lachte nicht, er redete zu sich selber, im stillen.
Am ersten Januar sind Scherze erlaubt, ich wollte Ihnen bestimmt nicht zu nahe treten. Vorsätze. Würden Sie gerne einen Ausflug unternehmen? Aufs Land? Landschaft, Herr Madaira, hat Ihnen immer gutgetan. Die Osterseen. Sie gehen auf den vertrauten Wegen spazieren, durch den Wald, am Ufer entlang, kehren in ein Gasthaus ein, haben keine Eile. Wenn Sie angesprochen werden, geben Sie Autogramme. Sie sollten das Jahr bei den Hörnern packen. Haha. Sie könnten mit einem Telefongespräch beginnen. Wen anrufen? Die Auskunft. Die Frau da soll die Nummer und Adresse von Rudolf von Lodern raussuchen. Rudolf von Lodern in Bad Canstatt. Die Straße wissen Sie nicht, Sie stellen Vermutungen an, die Auskunftsfrau fragt Sie etwas, und Sie antworten. Das ist ein erster Schritt. So beginnt das neue Jahr. Schaffen Sie das?
Auf dem mittleren der drei Seen entdeckte er zwei weiße Tupfer, Schwäne vielleicht, weit entfernt, und auch egal.
Ich muß aufstehen und hinausgehen, dachte er. Um diese Zeit ist noch niemand auf der Straße, alle schlafen ihren Silvesterrausch aus.
Auch Sie waren betrunken, Herr Madaira. Nur am Rand. Nur am Rand. Wenn man nur am Rand betrunken ist, bleibt man im Kern unversehrt und erwacht am Morgen munter und beflügelt.
Worauf warten Sie, Herr Madaira? Auf nichts. Ich bin bereit. Ich ziehe meinen Mantel an und gehe auf die Anhalter Straße hinaus. Das ist nicht schwer. Den Hut darf ich nicht vergessen. Es regnet nicht, aber vielleicht ist es kalt. Geschneit hat es nicht, das steht fest. Auch in diesem Winter wird erst im Februar oder März
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