Hinter dem Mond
der Reise mit meinem Vater. Allein wäre es nicht so schlimm gewesen. Aber ich fand es schon unerträglich qualvoll, mit meinem Vater nur zehn Minuten in einem Zimmer zu sitzen, wie sollte ich es Wochen mit ihm in Deutschland aushalten, bis meine Mutter endlich nachkommen konnte. Ich ertrug ihn nicht, sein Anblick allein war schon eine Zumutung für mich, geschweige denn eine gemeinsame Mission, in der man voneinander abhängig war. Also saß ich da mit langem Gesicht und wusste nicht, was schlimmer war. Hierbleiben oder gehen müssen. Und der Abschied von Ramin war auch unwirklich. Ich hatte das Gefühl, man kann sich von jemandem, den man liebt, nicht trennen. Das geht einfach gar nicht, egal, wie weit man voneinander entfernt ist.
Als Ramin irgendwann gehen musste, begleitete ich ihn nach unten. Vor Mamans Eingangstür blieb er stehen, sah mir in die Augen und sagte: »Sei nicht so traurig.« Dann zog er mich an sich.
Ich heulte sofort los und winselte unter Tränen: »Ich bin aber traurig …«
Er nahm mich fester in den Arm, drückte mich an sich und küsste mich auf den Mund und … öffnete seine Lippen dabei!
Ich unterbrach vor Schreck mein Heulen und dachte, nein, jetzt hat er mich geküsst. Und dann küsste ich ihn zurück, verheult, sterbenstraurig und glücklich zugleich.
Maman war in ihrer Wohnung, und wir lagen uns direkt vor der Glasscheibe ihrer Tür in den Armen und küssten uns lange und innig, wie in einem Film. Leider hat sie nicht zufällig die Tür aufgemacht, um neugierig rauszugucken, wie sie es gerne tat. Sie wäre vor Schreck sicher wieder zurück in ihre Wohnung gefallen, hätte die Tür zugeknallt und niemandem erzählen können, was ihre armen Augen gesehen hatten, direkt vor ihrer Tür. Niemand hätte ihr geglaubt, selbst ihr blöder Sohn nicht.
Als ich wieder oben war, heulte ich Rotz und Wasser. Der Kuss gab der ganzen Situation den letzten, hochdramatischen Rest. Ich war todunglücklich und hätte am liebsten Mr Molly genommen und wäre zu Ramin gerannt. Sollten meine Eltern doch machen, was sie wollten, ohne mich.
Golli erzählte mir dann auch noch, dass Ramin, als ich kurz draußen war und er wie immer auf seinem Schreibtischstuhl saß, ihr gesagt hatte, sie sollte bei mir bleiben, und zwar so lange, bis wir wegflogen, weil er sich Sorgen um mich machte. Er könnte es nicht ertragen, mich so traurig zu sehen.
Der Flughafen Mehrabad war genau so, wie man sich einen Flughafen im Krieg vorstellt, wenn alle schnell weg wollen, also eine vollkommen hysterische Stimmung, die teilweise in Panik umkippte. Perser sind ja sowieso oft hysterisch und übertrieben aufgeregt, also kann man sich vorstellen, was los war. An langen Tischen standen lauter bärtige Männer und Frauen in schwarzen Tschadors mit einem Gesichtsloch, die alle Menschen, Koffer und Taschen durchsuchten: Mich durchsuchten zwei schwarze Tschador-Monster gleichzeitig, ich musste meine Turnschuhe ausziehen und meine Longines abbinden, die lange Goldkette mit dem Allah-Anhänger und meinen breiten Goldreif abnehmen. Dann musste ich mich auf einen Stuhl setzen, während mein Vater schon weitergeschoben wurde an den langen Tisch zur Taschenkontrolle. Mein Vater blickte ständig aggressiv um sich, er suchte mich und strich sich dauernd nervös über den Kopf, als wäre etwas furchtbar schiefgegangen. Ich wollte ihm nicht winken, er hatte mir extra gesagt, ich sollte den Armreif zu Hause lassen, er würde jetzt alles nur noch schlimmer machen. Sie gaben mir meine Uhr und die Kette zurück, bei dem Armreif schüttelten sie ihre schwarzen Schleier-Köpfe und sagten: »Der muss hierbleiben. Das ist verboten.«
Mir wurde schlecht. Ich wollte meinen Armreif nicht hergeben. Und ich rechnete damit, dass sie mich jetzt mitnehmen und bestrafen würden, weil ich einen Armreif hatte schmuggeln wollen.
Während die Tschadors mir erklärten, ein Angehöriger könnte den Armreif abholen, sah ich, wie zwei Bärtige die schwarze Arzttasche meines Vaters aus schwerem handgenähtem Leder durchsuchten. Mein Vater liebte diese Tasche. Er hatte sie mit Infusionen und Medikamenten gefüllt dabei, als es mir in Jugoslawien so schlecht gegangen war, und jedes Mal, wenn ich am Kaspischen Meer Brechdurchfall bekam oder sonst jemand krank wurde, holte er sie aus dem Auto. Er hatte sie sich zur Belohnung zum Staatsexamen bei einem berühmten Koffermacher in London anfertigen lassen. Jetzt sah ich, wie der Bärtige mit einem spitzen Messer das
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