Hinter dem Mond
wollte kein Geld rausrücken. Da schnitten die Entführer dem Jungen einfach ein Ohr ab und schickten es dem Großvater mit der Post nach Amerika. Zufällig streikte die Post, das Ohr war viele Monate unterwegs, und der Junge musste ewig auf seine Freilassung warten. Besonders schockierend fand ich, wie der Junge genau erzählte, wie sie einfach mit einem Messer sein Ohr absäbelten, die Knorpel durchschnitten und wie das ganze Blut in seinen Haaren verkrustete. Er sagte, das Schlimmste war für ihn, dass er keine Sonnenbrille mehr aufsetzen konnte, wo er doch Sonnenbrillen über alles liebte. Die Sonnenbrillen hielten nicht auf dem Ohrstumpen, der ihm geblieben war.
Die Geschichte ging mir wahnsinnig nahe, und ich musste immer wieder an den Jungen denken, so ganz allein in Rom, in der Hand der grausamen Entführer, und der böse Großvater, der ihn einfach im Stich ließ. Es war ein Foto des Jungen dabei, er hatte lange braune Locken und sah sehr hübsch aus. Ich stellte mir vor, wie weh es tun musste, wenn einem ohne Betäubung mit einem Klappmesser das Ohr abgeschnitten wird. Ich wollte mit Carmen über Ohramputationen sprechen, aber es interessierte sie überhaupt nicht. Sie wollte lieber weiter mit unseren Barbies spielen.
Mit meiner anderen Freundin Angela kam ich im Ballettunterricht ins Gespräch. Seit Anfang des Schuljahres ging ich nämlich wieder in die Ballettstunde. Eine unserer Sportlehrerinnen, Frau Armenian, war Deutsche, vor ihrer Ehe professionelle Tänzerin in Berlin und gab im Bowling-Club einmal pro Woche Ballettunterricht. Der Bowling-Club war ein großer amerikanischer Club am obersten Ende der Pahlewi Avenue, eine halbe Autostunde Richtung Norden von uns entfernt, da, wo die Bäume prächtig und gesund waren, und rechts und links nur lange Mauern zu sehen waren, hinter denen die ganz krassen Villen von Leuten, die meistens irgendetwas mit dem Hof zu tun hatten, in großen Parks versteckt waren und keine Schafherden im Wassergraben neben der Straße, dem Djub, rumstanden und Melonenschalen futterten. Der Bowling-Club war die ganzen Jahre über einer der beliebtesten Plätze für uns von der Deutschen Schule. Oben war zum Beispiel eine große Rollschuhbahn, wo wir manchmal Sportunterricht hatten. Das fand ich super, weil ich immer eine große Niete in Sport war, aber sehr gut Rollschuh fahren konnte. Ich hatte mir meine ersten Rollschuhe mit sechs gewünscht, das waren solche, die man sich unter die Turnschuhe schnallte, und an denen man mit einem Kreuzschlüssel die Größe verstellen konnte, sobald man wieder etwas gewachsen war. Ich bretterte so lange erbarmungslos auf das unebene Bürgersteigpflaster in unserer Straße in Deutschland, bis meine Knie komplett blutverkrustet waren und ich endlich schneller war als alle Fußgänger. Die Rollschuhe im Bowling-Club waren aus weißem Leder, sahen aus wie Schlittschuhe und hatten vorne Stopper aus Gummi, die Bahn war aus aalglattem Linoleum. Für mich überhaupt keine Herausforderung, ich war immer die Beste und konnte mich damit vor der Fünf in Sport retten. Frau Armenian war erstaunt darüber, wie jemand, der keinen Ball fangen und nur zwei Meter weit werfen und nur einen halben Meter weit springen konnte, mit einem Bein nach hinten gestreckt im Takt der Musik eine perfekte Acht fahren konnte. Unten im Erdgeschoss waren gigantische Bowlingbahnen, wo gut gelaunte Amerikanerinnen mit fetten Hintern in Jerseyhosen hochmotiviert die schwarze Kugel schwangen, dazu Bier tranken und laut auf Amerikanisch grölten. Gleich daneben in der Eingangshalle war ein Foto-Automat, der schwarzweiße Passbilder machte. Es gehörte einfach dazu, sich zu zweit oder zu dritt in die kleine Kabine zu quetschen und komische Grimassen zu ziehen, während es viermal blitzte. Ich glaube, es gibt niemanden von uns, der nicht wenigstens eine Serie von diesen Bildern besitzt. Der Ballettunterricht dagegen war weniger amüsant. Spitze wurde überhaupt nicht getanzt, die meisten hatten nur Gymnastikschuhe mit einer geriffelten Gummisohle, was mich massiv störte. Meine Ballettschuhe waren aus rosa Leder, hatten eine Wildledersohle und ein rosa Gummiband um den Spann. Auch mein Trainingsanzug war rosa, genau wie meine Ballettstrumpfhosen, und natürlich hatte ich rosa Stulpen. Der Rosa-Fimmel beim Ballett war meine geheime dunkle Seite. Das ganze Zeug war neu und aus Paris. Parvin hatte es mir von einer Paris-Reise mitgebracht.
Es gab kein Klavier, wir mussten zur
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