Hinter der Tür
Verratenseins in Ihren Schmerz. Nein, ich erwarte nicht, daß Sie sich noch an diese Gefühle erinnern. Aber sie waren vorhanden.
Und dann geschah etwas noch viel Schrecklicheres. Ihre Mutter starb ebenfalls. Die Tatsache, daß sie von eigener Hand starb, wurde Ihnen verheimlicht. Vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht hätte Ihnen die Erkenntnis geholfen, daß sie sich allein entschlossen hatte, diese Welt zu verlassen, daß dieser Schritt nichts mit Ihnen zu tun hatte. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Gail?«
»Nein.«
»Sie haben auf den Tod Ihrer Mutter reagiert, weil er genau das war, was Sie sich gewünscht hatten.«
»Nein! Das ist unmöglich!«
»Bis heute wollen Sie sich nicht an Ihre wahren Gefühle erinnern, weil sie Ihnen genauso schrecklich vorkommen wie damals. Als Ihre Mutter starb, fühlten Sie sich dafür verantwortlich. Und Sie wußten, daß der Schuld die Strafe folgte.«
»Strafe …«
»Ja. Ihr Unterbewußtsein wartet nicht lange, diese Strafe nachzuliefern. Sie kam noch in derselben Nacht, Gail. Sie kam durch … durch die Tür da.«
Wieder blickte sie zur Tür, ausdruckslos. »Ich erinnere mich nicht«, sagte sie.
»Sie müssen sich aber erinnern, Gail. Um Ihrer selbst willen müssen Sie sich daran erinnern, müssen es wieder sehen, müssen sich ein für allemal damit auseinandersetzen!«
»Ich glaube, ich würde sterben, wenn ich das täte«, sagte Gail.
Dr. Vanner schwieg – wenigstens ihr gegenüber.
Mrs. Bellinger mißdeutete seinen müden Schritt und die herabgezogenen Mundwinkel und fragte, ob es Gail schlechter gehe. Er verneinte und sagte, er habe ihr etwas ergeben, das ihr das Schlafen erleichterte, so daß sie sich morgen besser fühlen würde. Mrs. Bellinger deutete an, sie könne selbst »etwas« gebrauchen; sie schlafe neuerdings so schlecht. Vanner runzelte die Stirn und sagte, er könne ihr leider nicht helfen. Die Haushälterin entschuldigte sich für die Bitte; zum Ausgleich bot sie ihm eine Tasse Tee an. Vanner meinte, daß es dafür vielleicht schon zu spät sei, aber da Mrs. Bellinger noch nicht ins Bett gehen wollte, nahm er dankbar an. Mrs. Bellinger kam zu dem Schluß, daß er wohl doch ein ganz achtbarer Arzt war, auch wenn er keine kleine schwarze Tasche bei sich hatte. Sie bot ihm an, den Tee im Wohnzimmer zu servieren, doch er sagte, die Küche tue es doch auch. Daraufhin glaubte Mrs. Bellinger plötzlich auch Charme an ihm zu entdecken. Sie reichte einige Kekse zum Tee.
»Trinken Sie nicht mit?« fragte Dr. Vanner. Als sie nur errötete, sagte er: »Ich würde mich wirklich darüber freuen. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«
Die Haushälterin setzte sich unterwürfig und etwas wackelig auf eine Stuhlkante.
»Ich habe mich mit Miss Gunnerson über die Nacht unterhalten, in der ihre Mutter starb«, begann er. »Über die Nacht, in der sie krank wurde. Das ist sicher ein Abend, den Sie so schnell nicht vergessen.«
»O nein!« sagte sie. »Und wenn ich hundert würde!«
»Sie waren Mrs. Gunnerson bestimmt sehr ergeben.«
Mrs. Bellinger hob eine Schulter. »Sie war eine liebe und bedauernswerte Frau, aber ich kann nicht behaupten, daß ich sie wirklich gut gekannt habe. Als ich eingestellt wurde, war sie schon … naja, wie sie eben war. Sehr ruhig und scheu und in sich gekehrt; sie redete nur noch mit ihrem Mann, kaum noch ein Wort an das eigene Kind. Oh, es war schlimm, als sie starb, aber das war an dem Abend nicht das Schlimmste für mich. Viel schlimmer war es, wie das Kind aus dem Leim ging.«
»Ja«, sagte Vanner. »Das war bestimmt nicht sehr angenehm.«
»Sie war erst sechs Jahre alt, wissen Sie. Was für eine Tragödie, im gleichen Jahr beide Eltern zu verlieren! Und nun hatte sie gar keine Verwandten mehr – außer den beiden.« Sie schnaubte mißbilligend durch die Nase.
»Die beiden? Sie meinen ihren Onkel und ihren Vetter? Die Swanns?«
»Ja – die Swanns. Das waren nun wirklich zwei schräge Vögel. Der Onkel mit seiner herablassenden Art kam nur mal ins Haus, wenn jemand gestorben war, und schrieb seinem leiblichen Bruder ansonsten nur, um
Geld zu borgen. Er war der arme Bruder in der Familie, doch er benahm sich immer wie der König von England. Da haben die beiden übrigens gewohnt. Er und der schreckliche Junge.«
»Sein Sohn, meinen Sie?« Vanner streckte unter dem Küchentisch die Beine aus und begann sich langsam zu entspannen. Das Gespräch machte ihm Spaß.
»Ich hatte nie etwas für Jungen übrig. Wir
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