Hinter Geschlossenen Lidern
geschlossenen Augen verwandelt hätte. Tausendmal wollte ich ihn anrufen, Tausendmal steckte ich das Telefon unverrichteter Dinge wieder weg. Dann beschloss ich, dass es besser war, selbst hinzufliegen.
Jetzt stand ich mitten in der Nacht am Osloer Flughafen, es war kalt, regnete wie aus Eimern und ich wusste eigentlich gar nicht, was ich hier wollte. Zumindest wollte ich mit meinen Gedanken an ihn allein sein in der Stadt, in der alles begonnen hatte, die seine Aura atmete. Ja, nachdenken, das wollte ich. Mir über meine Gefühle zu ihm endlich klar werden, ihn sehen vielleicht, mich vergewissern, dass er wirklich glücklich war.
Ich mietete mir bei einem verschlafenen Angestellten einen unauffälligen Wagen, suchte aus dem Telefonbuch eine kleine Frühstückspension in der Nähe des Hafens heraus und fuhr in die Innenstadt. Die Pension lag in einer ruhigen Seitenstraße. Als ich dort ankam, hatten sie noch geschlossen. Ich entschied, den Rest der Nacht im Wagen zu verbringen, anstatt die Leute aus dem Bett zu klingeln. Ich würde ja doch nicht schlafen können und konnte ebenso gut warten, bis sie morgens aufmachten.
Aber das bereute ich schon kurz darauf. Der Regen trommelte unablässig aufs Wagendach. Es war kalt und feucht im Auto, kälter, als ich gedacht hatte. Ich musste den Motor laufen lassen von Zeit zu Zeit, um nicht ganz einzufrieren.
Dennoch blieb ich einfach sitzen. Mir war schon lange alles egal – bis auf Dag. In diesem Augenblick begriff ich, dass ich nicht mehr ich selbst gewesen war, seit ich ihn verlassen hatte. Ich war nicht nur verliebt in ihn, ich brauchte ihn wie der Mond die Sonne braucht, um zu scheinen. Nicht die Eifersucht hatte mich hierher gebracht. Sie war vielleicht der Wespenstich, der mich aus meiner Lethargie gerissen hatte und der Grund für die Torschlusspanik, die ich empfand. Aber ich hatte plötzlich die sichere Gewissheit, dass wir zusammengehörten. Was auch passiert sein mochte, Dag und mich konnte und durfte nichts und niemand trennen.
Diese Gewissheit wurde allerdings bereits am nächsten Tag schwer erschüttert, als ich die Schlagzeilen in den Morgenzeitungen las:
‘Dag Ragnarson: Rücktritt mit siebenundzwanzig’ ‘Bester Keeper aller Zeiten gibt auf’ ‘Der Wikinger tritt ab’
‘Gerüchte besagen ...’ Ich las den Artikel quer. Von Verletzungsmüdigkeit war die Rede und von einer Pressekonferenz, die für heute Vormittag anberaumt worden war. Man versprach, die Leser in der kommenden Ausgabe umfassend über die Hintergründe zu informieren.
Ich saß da wie betäubt, sah mir die Bilder darunter an, eins, auf dem er wie Kahn 2006 beinahe in Höhe des Torbalkens quer in der Luft hing, den Körper in einem perfekten Spannungsbogen, die Arme über dem Kopf nach dem Ball ausgestreckt. Man sah, der Ball würde sicher in seinen Händen landen.
Das andere war ein Portrait von ihm mit längerem Haar, als ich es in Erinnerung hatte und einem abgeklärten Blick, aber noch genauso faszinierend, obwohl man die außergewöhnliche Farbe seiner Augen auf dem Schwarzweißfoto nicht sah. Ich fuhr mit dem Finger die Konturen seiner Lippen nach und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Er machte also wirklich ernst.
Ich ließ mein Frühstück stehen, zog mir meine ältesten Jeans und einen weiten Pullover mit Kapuze über und ging zur Pressekonferenz. Sie fand passenderweise im ersten Stock des gleichen Hotels statt, in dem ich damals mit der Mannschaft gewohnt hatte. Aus Nervosität und um so früh wie möglich da zu sein, fuhr ich wie ein Irrer.
Natürlich hatte ich keinen Ausweis, aber ich zog einfach die Kapuze tief ins Gesicht, schnappte mir das Kabel einer Kamera und schlüpfte mit durch, als die Jungs vom norwegischen Fernsehen vor Beginn eingelassen wurden, damit sie schon einmal alles aufbauen konnten.
Der Raum füllte sich bis zum letzten Platz und dann kam Dag und nahm an der Seite des Vereinsmanagers und seines Trainers auf dem Podium Platz. Er war blass und hatte an Gewicht verloren, was dem riesigen Mann etwas Jungenhaftes gab. Aber er beantwortete die Fragen mit sicherer Stimme.
Ich stand ganz hinten an der Wand, halb versteckt hinter der unvermeidlichen Großraumpalme und konnte die Augen nicht von ihm lassen. Nach dem Regen der vergangenen Nacht war es heller geworden. Die Sonne suchte sich genau diesen Augenblick aus, um zögernd durch die ziehenden Wolken zu brechen. Ihre schrägen Strahlen glitten wie Suchscheinwerfer langsam über die Köpfe der
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