Hintergangen
viel Stille und Innenbeschau ist anscheinend kontraproduktiv.
Die Mittags- und Abendmahlzeiten werden im Speisesaal eingenommen. Wir sollen uns untereinander vermischen – das heißt mit den stabileren Patienten. Manche dürfen natürlich wegen ihrer Gewaltausbrüche gar nicht aus ihrem Zimmer. Ich halte mich meistens etwas abseits. Trotz der permanenten Fröhlichkeit des Personals ist es kein froher Ort.
Geisteskrankheit ist etwas Niederschmetterndes. Von Schizophrenie bis zu Persönlichkeitsstörungen, jeder hier ist in einem traurigen Abschnitt seines Lebens. Und für manche ist es auch die Zukunft.
Ich bemühe mich, jeden Tag etwas Zeit für ein Schwätzchen mit den Leuten zu finden, die unter der einen oder anderen Art von Demenz leiden – denen, die überhaupt nicht kommunizieren können. Ich lese jeden Morgen die Zeitungen und erzähle ihnen Geschichten über das, was auf der Welt passiert, allerdings nur das Erfreuliche. Nichts von Krieg und Mord. Ich weiß nicht, ob sie mich hören können, aber das ist ja kein Grund, nicht mit ihnen zu reden. Stell dir, vor die wissen, was um sie herum vorgeht, und das Einzige, was sie nicht können, ist kommunizieren! Wie schrecklich wäre es doch, wenn niemand mit ihnen sprechen würde!
Und dann Hugos Besuche, die die Pflegerinnen für den Höhepunkt meiner Woche halten! In ihren Augen ist er natürlich ein hingebungsvoller, liebender Gatte, der keinen Besuch ausfallen lässt. Dann werden auch die Medikamente weggelassen, denn er will mich beurteilen, will abschätzen, ob ich bereue. Er will wissen, ob ich gezähmt bin.
Bin ich natürlich nicht. Ich bin viel weniger gezähmt als zum Zeitpunkt meiner Einlieferung. Das braucht er aber nicht zu wissen.
Häufig bringt er auch Alexa mit, die allmählich größer wird. Es ist so schrecklich, weil ich hier drin gefangen bin, dabei sollte ich doch da draußen sein, um ihr all die Liebe zu geben, die sie braucht. Er bringt sie mit, um mich zu verhöhnen, weil er glaubt, wenn sie mich hier sieht, wendet sie sich gegen mich. Oder ich würde sie benutzen, um zu erfahren, was »draußen« vor sich geht. Das tue ich aber nicht. Ich würde nie etwas Negatives über ihren Vater sagen, denn ich wäre dabei diejenige, die den Kürzeren zieht. Sie darf ruhig glauben, ihr Daddy ist wunderbar, ganz egal, was die Wahrheit ist.
Gestern ist sein Besuch etwas anders verlaufen. Er hat mich lange mit Alexa allein gelassen. Wieso, weiß ich nicht. Ich glaube, es war wieder ein Test.
Ich habe sie endlich in die Arme schließen können, doch sie ist ein wenig steif geblieben und war nicht so knuddelig wie sonst. Wer kann es ihr verübeln? Ich habe langsam versucht, das Eis zu brechen.
»Es ist schön, dich zu sehen, Alexa. Wie geht’s in der Schule?«
»In der Schule geht es gut, danke, Laura.«
Mit ihren neun Jahren ist Alexa immer noch das höflichste Kind, das mir je begegnet ist, trotzdem ist mir diese Antwort etwas extrem vorgekommen.
»Ist alles in Ordnung, Püppi? Habe ich dich irgendwie geärgert?«
Alexa hat mich mit einem sehr feierlichen, ernsten Blick angeschaut.
»Warum bist du immer noch hier drin, Laura? Warum bist du nicht zu Hause bei uns?«
»Weil es mir noch nicht gut geht, Liebling, und Daddy und die Ärzte müssen entscheiden, wann die richtige Zeit ist, dass ich nach Hause kann.«
»Du willst aber doch nach Hause, oder?«
»Ach, Lexi, natürlich will ich. Ich kann’s gar nicht erwarten, dich jede Woche zu sehen.«
»Daddy sagt, es gefällt dir hier und dass du hier bist, weil du dir schlimme Sachen über Leute ausdenkst.«
Ich habe nicht gewusst, was ich dazu sagen sollte. Ich konnte Hugo ja nicht kritisieren.
»Na, ich will bestimmt nichts sagen oder tun, was jemanden ärgern könnte. Das wollte ich nie, mein Schatz, und wenn es passiert ist, dann tut es mir sehr leid.«
»Können wir bitte über was anderes reden? Immer wenn wir ein paar Minuten allein sind, will Daddy wissen, über was wir geredet haben und ob du mir Geheimnisse verraten hast.«
»Wir können über alles reden, was du willst, und nichts, was wir besprechen, muss ein Geheimnis bleiben. Du kannst Daddy alles erzählen.«
»Also, Daddy und ich, wir haben ganz, ganz viele Geheimnisse – aber er meint, das ist okay. Er sagt, Daddys und ihre kleinen Mädchen haben immer Geheimnisse.«
Bei diesen Worten ist mir fast das Blut in den Adern gefroren.
»Weißt du, Püppi, normalerweise ist es schon okay, wenn du deiner Mum oder mir von
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