Hintergangen
lässt doch vermuten, dass der Mann einen Ödipuskomplex hatte, oder?«
»Interessante Beobachtung«, sagte Tom, »denn soweit ich das verstanden habe, ist ein Ödipuskomplex nicht bloß eine Obsession mit der Mutter, sondern auch der Wunsch, den Vater zu töten. Da wir inzwischen wissen, dass der Tod des Vaters vielleicht kein Selbstmord war, ist es jedenfalls ein faszinierender Gedanke.«
Toms Vorgesetzter wirkte nachdenklich. Da das Gesicht auf einer Hand ruhte, waren seine Züge verschoben, und für einen kurzen Moment sah es fast symmetrisch aus. Als er die Hand bewegte, um etwas zu sagen, entspannte sich die Haut zu ihrer gewohnten Ungleichmäßigkeit.
»Bringt uns das irgendwie weiter?«
»Nein. Es bestätigt aber die Tatsache, dass Hugo Fletcher längst nicht der Heilige war, für den ihn die ganze Welt gehalten hat. Wenn er Laura geheiratet hat, weil sie praktisch wie seine Mutter ausgesehen hat, dann muss die Ärmste ja die Hölle erlebt haben.«
»Ist das Grund genug, ihn zu töten, was meinen Sie?«
»Ich würde sagen, Laura ist eine sehr rationale Frau, trotz der seelischen Probleme, denen ich noch auf den Grund gehen muss. Ihr Leben mit Hugo muss schrecklich gewesen sein. Je mehr ich über ihn erfahre, desto abstoßender finde ich ihn. Sie hätte zumindest mehr als genug Gründe gehabt, ihn umzubringen.«
Tom schwieg. Er dachte an die Laura, mit der er nach der Testamentsverlesung zusammengesessen hatte.
»Sie hatte es ganz sicher nicht auf das Geld abgesehen, wie ihre Reaktion auf das Testament beweist. Außerdem haben wir inzwischen überprüft, wo sie sich während der vierundzwanzig Stunden vor dem Mord aufgehalten hat, nur um absolut sicherzugehen. Wir haben mit den örtlichen Behörden in Italien gesprochen: Die Villa liegt direkt außerhalb von einem Städtchen, wo jeder über jeden Bescheid weiß. Sie ist am Freitag beim Olivenernten gesehen worden, und am Samstag hat der örtliche Kollege sie in ihrem Wagen auf dem Weg zum Flughafen überholt und ihr sogar zugewunken. Als wäre das nicht genug, haben wir auch noch die Telefonnachricht in Oxfordshire überprüft. Die kam definitiv aus dem Haus in Italien und definitiv am Samstagmorgen. Außerdem hat es sich ohne Zweifel um Lauras Stimme gehandelt.«
»Was ist mit der Freundin, Imogen Kennedy? Hatte sie ein Motiv?«
»Becky meint, schon. Sie will aber auch Laura nicht ausschließen und vermutet, dass irgendwas faul an der Sache ist. Wir glauben, Hugo hatte etwas mit dem Scheitern von Imogens Ehe zu tun. Das ist aber schon lange her. Andererseits haben wir gedacht, die beiden Frauen hätten seit Jahren keinen Kontakt mehr zueinander gehabt, bis Becky das Gegenteil gehört hat. Interessant ist auch, dass Imogen mit Mädchennamen anscheinend Dubois heißt, und Becky hat herausgefunden, dass jemand mit dem Namen Imogen Dubois am frühen Samstagnachmittag den Eurostar von St Pancras nach Paris genommen hat. Wir haben ihren Pass aber überprüft, und der lautet auf den Namen Imogen Kennedy. Sie hat ihren Mädchennamen nicht wieder angenommen.«
James Sinclair beugte sich gespannt vor.
»Manche Leute haben aber auch völlig legal zwei Pässe. Zum Beispiel Leute, die nach Israel und in die feindlichen Gebiete reisen, oder Leute, die so viel um die Welt reisen, dass sie einen zusätzlichen Pass brauchen, weil der eine vielleicht für einen Visaantrag abgegeben werden muss, wenn sie gerade verreisen müssen. Das klingt ja sehr vielversprechend.«
»Na, so vielversprechend auch wieder nicht. Wir haben bei der britischen Passbehörde nachgefragt, und auf den Namen Dubois gibt es keine Pässe, das ist also auch eine Sackgasse.«
»Dubois ist ein ziemlich ungewöhnlicher Name für jemanden aus Manchester, nicht?«
Tom lachte. »Das liegt daran, dass sie ursprünglich gar nicht aus Manchester stammt, sie ist … oh, Mist! Wie konnte ich bloß so dumm sein?«
Tom war aufgesprungen und schon fast an der Tür, während er unterwegs sein Handy aus der Tasche zerrte.
»Becky? Imogen Kennedy ist am Freitag aus Cannes abgefahren, richtig?«
Becky mit ihrem unglaublichen Gedächtnis würde seine Erinnerung bestimmt bestätigen können, was sie auch tat.
»Ihr Flug von Paris ging aber erst am späten Samstagnachmittag.«
Wieder bestätigte Becky und quäkte dabei »Warum, warum?« in den Hörer. Aber Tom ließ sich nicht ablenken.
»Ich will, dass Sie ausrechnen, wie lange Imogen gebraucht hätte, um von Paris nach Cannes zu fahren, und dann will
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