Hinterland
Straßen Budapests getragen. Ich hatte sie
entdeckt, diese Männer, sie fehlten nie, sie schritten neben dem Prozessionswagen daher, ihre groben Gesichter von Würde entstellt,
sie verehrten eine Leichenhand, sie hatten Freude am Leblosen aus Lebensschwäche. Meine Tochter las mir damals im Wörterbuch
die Definition für Nekrophilie vor, und ich wurde nachdenklich. Es hagelte Verwarnungen wegen ihr, denn sie beschimpfte M.
und die Seinen als Totengläubige, als Matsch der Geschichte, als Ohrenschmalz des Weltgeistes. Dann paßte mich auf meinem
Heimweg der Adjutant des ersten Anbeters ab und wies mich knapp darauf hin, daß dies der letzte Verweis wäre, ich sollte in
meinem Stall saubermachen. Wer war der erste Anbeter der Mumienklaue? Natürlich M. Ohne seine Einwilligung hätte dieser Bursche
mich, einen der Gründer des patriotischen Bundes, nie bedrängen dürfen. Dieser Einschüchterungsversuch gab den Ausschlag.
Ich zog nach Buda um in der Hoffnung, der Fluß würde die Nekrophilen davon abhalten, mir Besuche zu erstatten. Bald aber suchten
mich junge Männer auf, sie waren in großer Sorge, und sie berichteten mir, daß M. seine Schergen ausschwärmen ließ, auf daß
sie Zigeunern in den rechten Fuß schossen. Aus Reliquienverehrern waren Fäulniserreger geworden.
An diesem Tag traf ich eine Entscheidung, ich gründete mit diesen Männern den Bund der Getreuen Mariä, der Rosenstreuerin.
Die Glut unserer Körper gegen die Blutträne eines stinkenden Fisches. Meine Tochter wählte ich zur Anführerin, ihre weibliche
Vernunft sollte mäßigend auf dieRadikalen einwirken. Es gab sie auch in unseren Reihen, sie träumten davon, loszuschlagen gegen die Anbeter – hätte ich sie
von der Leine gelassen, hätten sie dem Weltgeist ein paar Federn gerupft. Immer mehr Bürgerliche strömten zu uns, und natürlich
dauerte es nicht lange, bis die Mumienklauenküsser über die Brücken auf unsere Uferseite schwärmten. Sie marschierten in Dreiergruppen,
und kaum daß sie einen von uns sahen, fotografierten sie ihn mit dem Mobiltelefon. M. legte also ein Dossier über uns an,
und bald klebten auf unserer Seite fast überall Steckbriefe, wir wurden als Zigeunerbüttel beschimpft, als antinationale Lümmel,
als talismanbehängte neue Kommunisten, als Schänder des Andenkens der Heiligen Jungfrau; wir würden sie zu einer rosenverkaufenden
Zigeunerin herabwürdigen, und wer nicht die heilige Rechte des wahren Königs ehrte, wäre Geschmeiß.
Wußte ich um das kommende Unheil? Ich ahnte es, der irre Teufel von der rechten Donauseite zerschmiß mittlerweile das Porzellangeschirr,
so wurde mir hinterbracht, er ließ sogar einen Hexer vom Gellertberg kommen und beauftragte ihn, meine Haut schuppig zu fluchen.
Der Zauber wirkte kaum. Ich vergesse nicht: der Schrei meiner Tochter, die Haustür aufstoßend, vor der Hausschwelle Aberdutzende
Fischaugen, glänzende glotzende geiferbedeckte Murmeln. Ich zog sie ins Hausinnere, wir spritzten uns Kölnisch Wasser ins
Gesicht, saßen zur Sicherheit auf dem Boden. Später sollten verirrte Kugeln einige unserer besten Kämpfer töten, aber zu der
Zeit befahl der Pester Teufel nur Provokationen. Meine Adresse war ihm also bekannt. Ließen wir das auf uns sitzen? Ja, sprach
ich, ja und nochmals ja, dieser gelackte Hinterhofrasputin wartet darauf, daß wir ihn angreifen. Wenn wir zur Polizei gehen,
sagen sie uns: ein Haufen Fischaugen, na und? Wenn wir Rache üben, verwandelt sich der Vorteil des Erstschlags in einen großen
Nachteil …
Heute erinnere ich mich voller Scham an die Ergriffenheitder jungen Männer nach meiner Rede, in meinen Worten steckte keine Wahrheit, meine Worte umnarbten nur Scherben Splitter
Bruchstücke Stoffreste. Wir kleinen Apparate der Renaissance, wir Rosenstreuer auf magyarischem Boden. Wir Kinder im Labyrinth.
Wer hat wen verdorben? War ich tatsächlich stümperhaft vorgegangen? Und wieso versteckte ich mich vor ihnen, an diesem unterirdischen
Ort in der Nähe des Brückenkopfes der Freiheitsbrücke? Buda gehörte uns, Pest gehörte ihnen, die Donau scheitelte Budapest.
Nur für wenige Monate galt die Abmachung. Doch diejenigen, die mich umgaben, sie alle warfen mir eine dulderische Gesinnung
vor. Meine vernünftige Tochter lehnte das Angebot ab, mich zu entmachten und die Männer anzuführen gegen den Mongolenkhan
im Hinterhof. Wegen meiner Schwäche verwandelten sie sich alle in Radikale, und
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