Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
wund rieb,
     er sah Ferdas blasses unrasiertes Gesicht im Rückspiegel, und als er Stunden später am Klavier saß und der Kontrabassist im
     entscheidenden Moment seinen Auftritt verpatzte, erinnerte er sich an dies Gesicht eines ermatteten Barbaren. Dann überlagerte
     Libors wachsbleiches Gesicht das Barbarenantlitz, und er dachte: Oh Libor, der du zu dieser Stunde in Prag Gretás Stalinismus
     ausgesetzt bist, wie gern würde ich dich hier im Publikum wissen, ich bin umgeben von Halbverliebten und Vollverrückten, ich
     wünschte, du wärest hier und würdest mich mit deiner Dreiviertelfreude anstecken …
    Während er diesen Gedanken nachhing, fuhr der Amateurfotograf im Rollstuhl näher heran und glaubte, einen völlig versunkenen
     Musiker zu fotografieren, man machte dem Rollstuhlfahrer Platz, die acht Männer auf der Bühne schauten ihm dabei zu, wie er
     Fotos schoß: Von ihnen und von dem hübschen Kind. Die Männer und Frauen im Publikum saßen auf Wirtshausbänken und waren völlig
     hingerissen, dies wardas Dorfglück, das sie sich herbeigesehnt hatten, und auch die Wirtin, der das Grundstück gehörte, machte ein zufriedenes
     Gesicht – sie hatte vor Jahren Dach, Tür und Fenster ihres Wintergartens abreißen lassen, nur an den Längsseiten des Pavillons
     stand die Sockelmauer, sie mußte aber die Terrasse überdachen, weil die Musiker sich weigerten, ihre Instrumente dem gelegentlichen
     Regen auszusetzen. Vorne am Bühnenrand saß der Gitarrist als einziger auf einem Stuhl, mal zupfte er an den Saiten, mal bückte
     er sich nach dem Glas Rotwein zu seinen Füßen, sein Gesicht war nur noch an einer einzigen Stelle geschwollen, am rechten
     Backenknochen, und vielleicht deshalb sah er für die Zuschauer aus wie … ein böhmischer Waldgeist. Ihn trieb kein Zorn mehr
     an, und daß seine Freunde, die jetzt in ihre Trompeten und Saxophone und Posaunen bliesen, ihn verprügelt hatten, machte ihn
     nur ein bißchen melancholisch. Nach diesem Konzert bekäme er ganz sicher keine Prügel, und da ihn die Aussicht auf heile Knochen
     begeisterte, brüllte er: Die Stille heilt!
    Die Frauen auf den vorderen Bänken klatschten ihm daraufhin zu, Lujza aber starrte ihn nur verwundert an, Rekorde waren lächerlich,
     und die Stille heilte. Dieser starrgesichtige, trocken kauende Pepa, dessen Finger kurz von einer Papageienzunge berührt worden
     waren, wußte also davon, daß man das Dorfglück nicht verschnipsen konnte. Lujza riß sich los von ihrem Sitz, nahm Pepa das
     Weinglas aus der Hand und drückte ihm, vor den Augen des Kontrabassisten, einen Kuß auf die Lippen. (Nicht erst dieser Kuß,
     und auch nicht die vielen anderen Liebesbezeugungen mit ihrem Mund, machten ihrem Verhältnis mit dem Bassisten ein Ende. Er
     gab immer vor, er hätte sich ihrer nur angenommen, sie wäre von ihm abhängig. Dabei wußte er nicht einmal, wie man den Rücken
     einer Frau streichelte. Von ihrer Hörigkeit konnte keine Rede sein, auch wenn er in Männerrunden damit prahlte. Lujza liebte
     und hörte auf zu lieben, wenn es die Umstände erlaubten.In weniger als einer Woche würde sie sich von ihm trennen, sie würde keinen Riß in ihrer Außenhülle zulassen und sich auch
     keine Amokläufe gestatten. Sie küßte gern fremde Männer, und wen auch immer das Schicksal ihr zutrieb als Geliebten … diesen
     Mann würde sie darüber aufklären, daß sie die Kußuntreue für eine Selbstverständlichkeit hielt.)
    Der Kubaner war Zeuge des Kusses dieser begeisterten Frau, und auch wenn er jetzt am einzigen Standmikrofon spielte, ihm entging
     nicht, daß Hornissen, zur Verrücktheit angepeitscht von den flackernden Neonstäben, dicht an der Decke flogen, sie schwirrten
     um die Köpfe der Musiker. Antonin schrie, sie würden sie totstechen, doch auch er spielte weiter, ließ den Blick kurz über
     die Zuschauer schweifen und sah, daß sich der Deutsche abwandte, er schritt von einem Ende der Festwiese zum anderen, blieb
     am Käfig des Vogels stehen, warf etwas hinein und ging, zum Himmel hochspähend, den Dorfpfad zum Bauernhaus hinunter, der
     Komponist begriff … nichts. Er hatte plötzlich Herzklopfen, und da suchte er mit den Augen nach seiner Tochter, sie hielt
     sich am Maschendrahtzaun fest und starrte dem Mann hinterher, von dem sie nicht mehr sicher sagen konnte, daß sie ihn begehrte.
     Natürlich hatte er es verstanden, sie wußte, sie würde am Boden des Käfigs die kleine, zur Gesäßform verwachsene Kastanie
    

Weitere Kostenlose Bücher