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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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ich ahnte, und ich wußte: Sie würden mich
     früher oder später in meinem Badewasser ertränken. Der eine zöge am einen Badewannenende meine Füße hoch, der andere drückte
     mich am anderen Ende unters Wasser.
    Ich floh, ein Schatten in der Tageshelle, ich sprang weg und floh. Hierher. Über mir die Wallfahrtsgrotte, die einstige Höhle
     des Eremiten Iwan, des Heilers, über mir Schritte von Besuchern des Gnadenorts, über mir die Felsenkapelle, manchmal ein Scharren
     wie von einem hirnlosen Tier, das nichts weiß vom Schicksal, und von denen, die dem Schicksal hinterherjagen. Ich war zum
     rufenden Berg geworden, zum Rufer im Berginneren, und meine Tochter, die an der Straßenbahnstation am Gellért tér ausstieg,
     den gewundenen Weg hochkletterte und die Grotte betrat, sie, die sie mir Brot und kalten Braten brachte … ich konnte ihr nicht
     in die Augen sehen. Als Kind war sie oft erschrocken gewesen über den Tod von Katzen und Katzen und Katzen, und ich hatte
     ihr das Gesicht mit Kölnisch Wasser gerieben, und wir hatten uns auf den Boden gesetzt. Jetzt saßen wir auf dem kalten Boden,
     undsie sprach von den toten Männern in unseren Reihen, von den Überläufern, die M. erst schlug und trat, um sie anschließend
     auf den stinkenden Fisch und die stinkende Mumienhand einzuschwören.
    Wir lösten uns auf. Meiner Tochter riet ich vergebens, ein Versteck zu finden, am besten in der Nähe der Becken der Städtischen
     Wasserwerke am Hang des Berges – sie wollte nichts davon wissen. Wer sollte uns beide versorgen? Kannten wir einen Menschen,
     dem wir wirklich vertrauten? Der uns nicht gegen eine Handvoll Judassilberlinge verriet? Einmal wagte ich mich aus der Untererde
     heraus, trat an das Budaufer, blickte auf das Wasser der Donau, trüb kam es mir vor, milchig braun wie Ohrenausfluß. Mein
     Blick ging hinauf zum Azurhimmel, dann hinab zu den Pfeilerspitzen der Brückentore, dort sah ich die Turul mit gestreckten
     Schwingen auf kleinen goldenen Zwiebelknollen wachen. Nicht Adler, nicht Geier, nicht Bussard, nicht Falke: Ein Greifvogel,
     der sich nach der Sage mit unserer Urmutter vereinigte, und wir wurden zum Volk. Lange stand ich am Ufer und regte mich nicht,
     und da fiel ein Schatten auf die Kaimauer, und M. legte die Hand auf meine Schulter.

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    Ich nannte ihn naponta reggel, das hieß auf ungarisch täglich morgens. Im Gegenzug gab er mir den Namen van pörkölt, und er
     übersetzte mir gleich die Worte ins Deutsche: Gibt es Gulasch? Er kam täglich morgens frischrasiert zur Frühstücksbar an der
     Stephansallee in Leopoldtstadt, ich mußte nur aus meinem Hotel hinter dem Komödientheater in einer kleinen Seitenstraße heraustreten,
     und nach abgezählten fünfzehneinviertel Schritten stieß ich schon auf Arad. Er saß unterm Efeugerank auf der erhöhten Terrasse
     und blinzelte mich hinter verschmierten dicken Brillengläsern an. EinIntellektueller, dachte ich zunächst, ein Exilungar, der nach seiner Rückkehr mit einem kritischen Buch über sein Land befaßt
     ist, einer, der beim Nachdenken über die Übel auf die Bügelfalte am Knie starrt, um die Touristin, die er anspricht, milde
     zur Geduld anzuhalten. Er verriet mir gleich beim Eröffnungsgespräch, daß er auf die Fünfzig zuginge und sich zu einem amourösen
     Grundverständnis durchgerungen hätte: Das Weltbeste wäre zwar in Ungarn zu Hause, wer zuzöge oder dazukäme, könnte von ihm
     nicht viel lernen, dafür aber durfte die betreffende Frau aus Deutschland, aus England, aus Amerika auf einen schönen Flirt
     mit Konsequenzen hoffen.
    Wieso haben Sie mich angesprochen? sagte ich, ich bin nicht reich, ich bin ein Mann, und ich bin in Budapest völlig orientierungslos
     … Er überging meine Frage und täuschte einen Hustenanfall vor, vielleicht bereute er es, daß er einem Fremden gegenüber ein
     peinlich genaues Bild seiner Möglichkeiten gezeichnet hatte. Dann aber sagte er, ein bißchen sterben wäre nicht das Schlechteste,
     und ich nahm mir leicht verärgert vor, keine Fragen zu stellen, denn sie kitzelten anscheinend Kalenderweisheiten aus ihm
     hervor, die er in perfektem Deutsch und fast ohne Akzent vortrug. Er schnitt die besten Horoskope des laufenden Monats aus,
     klebte sie auf eine kleine Schautafel, die er rechts neben dem Badezimmerspiegel angebracht hatte, und las sie beim Zähneputzen.
     Sie ließen sich zu dem triumphverdächtigen Satz zusammenfassen: Heute glücken alle Ihre

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