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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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finden: Ein Fundstück, ihr Geschenk an ihn.
    Eine halbe Stunde später fuhr ein Taxi langsam an der Wiese vorbei, auf dem Rücksitz saß ihr Geliebter, er schaute geradeaus,
     und sie verliebte sich wieder in seine rechte Gesichtshälfte und in seine Hände, obwohl sie sie nicht sehen konnte, dies war
     doch nur ein Ende von vielen Enden, verstehe es doch, dachte sie, wir werden vielleicht noch viele Enden zusammen erleben,
     deshalb ist ein Ende kein Ende, verstehe es doch, Glück wünsch’ ich dir in BukarestBudapest.

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    Ich erinnere mich: In den Hinterhöfen begann im Hochsommer die Renaissance. Es begann damit, daß einige wenige Nichtkommunisten
     vom vielen Rauchen einen wunden Mund bekamen. Sie hatten Zweifel, Zweifel an den Tragebalken, an den Stützsäulen, an den Spannungs-
     und Strommessern, an Kugellagern, an Zahnrädern und anderen Maschinenteilen, sie zweifelten, weil ihnen die Roten alles als
     solide verkauften. Und dies alles ging auseinander, zerfiel. Jemand hörte jemanden Trinkgläser zerschmeißen, es war keinesfalls
     ein Angriff oder ein Übergriff. Nur eine Nachahmung des Zerfalls einer kommunistischen Maschine. Dieser Jemand, der Zeuge
     der Imitationsübung eines Jemands wurde, preßte nicht etwa sein Ohr an die Wand, er gehörte vielleicht nicht zu den Zuträgern.
     Und er war nicht überrascht, daß sein Hausnachbar der Stille überdrüssig wurde. Nachts feierten die Männer, bis sie nach Schnaps
     stanken. Einige wenige waren dagegen vom Weltgeist befeuert oder sogar bewohnt, sie sagten: Mein Leib ist bewohnt von höherer
     Macht. Dies war ihre Antwort auf die mindere Qualität der Radiatorrippen, der Spindel von Wasserhähnen, der Dachpappenstifte,
     der Tankklappen.
    Die Spitzel, die Ohrenbläser, sie wußten um das schadhafte Material, das uns umgab, sie wußten, daß wir argwöhnten, der Boden
     würde bei einem festen Tritt nachgeben. In den Transkripten der Gespräche, die sie führten mit dem Führungsoffizier, ist nachzulesen:
     Die Person M. bleibt an unbeschrankten Bahnübergängen lange stehen. Sie nimmt keinen Kontakt mit anderen mürrischen Zivilisten
     auf. Eine politisch inspirierte Aufsässigkeit darf nicht ausgeschlossen werden. Die Person M. flucht bei jeder sich bietenden
     Gelegenheit. Das Gerücht hält sich hartnäckig, sie habe bei einem privaten Trinkgelage über die verbeulten Schraubverschlüsse
     von Schnapsflaschen geschimpft!! Ich erinnere mich an die Person M., einen Mann mit einem Wattepfropfen in jedem Ohr, er sprach
     von sich als von einem geschlechtsreifen Neutrum,das die Frauen abstieß. Tatsächlich waren die Frauen angeekelt von den grau gescheckten Wattebäuschen, und jedesmal, wenn
     M. den Kopf neigte, fürchteten sie, ein trüber Saft würde heraussickern. Vielleicht konnte M. es nicht länger ertragen, daß
     man ihn den Hinterhofmondsüchtigen zuschlug, und vielleicht deshalb warf er zwei Bierseidel und einen Römer hintereinander
     gegen die Wand.
    Die Alten nennen das rote Interregnum ›az átkosban‹, die verfluchte Zeit. Die Neuen Ungarn haben diese Zeit abgeschafft, es
     kümmert sie nicht, was war, es kümmert sie nur, daß das bißchen Magyarenland nicht untergegangen ist. M. hat sich damals als
     einen Schnapspatrioten ausgewiesen, und die Ausspäher, die man auf ihn ansetzte, mußten viel Phantasie aufbringen, um aus
     seinen Flüchen eine Regimelästerung abzuleiten. Was leicht zu Bruch ging, was beim sanften Griff zersprang, was sich beim
     kleinsten Druck zerteilte, war kommunistische Materie – unsere Welt bestand aus Scherben Splittern Bruchstücken Stoffresten.
     Ich bin vor Angst erstarrt, in jener Nacht der Glaszerschlagung, ich wußte, M. war allein und betrank sich, ich wußte, er
     hatte bei der Frau, die immer Hosenkleider trug, nichts erreicht. Also rauchte er sich den Mund wund, aß Pistazien. Wenn man
     viele Pistazienschalen mit dem Mund knackt, hat man eine vom Salz zerrillte, brennende Unterlippe – deshalb rieb er ständig
     an seinen Lippen, eine für einen Mann seines Alters obszöne Geste.
    Als ich mich aus der Erstarrung löste, kam mir der Gedanke, bei ihm zu klingeln und mit ihm ein Glas Wein zu trinken. Denn
     wir waren doch auf dem Weg zur Perfektion, wir alle ahnten, wir würden nicht unter Schutt und Schrott begraben werden, der
     Weltgeist fächelte mit erzenen Schwingen von jenseits der Grenze. Heute kann ich nur lachen über den Namen, den wir, die nichtdissidenten
     Nichtkommunisten,

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