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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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um die Mahlzeit süß abzuschließen – drei oder vier Pflaumen, er spuckt die Kerne in ein Schälchen, und die Kerne ergeben
     in seinen Augen ein Bild. Gott allein die Ehr, ruft der Mann, weil er am Morgen des Tages, da er die Kerne ausspuckt, ein
     Himmelszeichen entdeckt hat, so wenig Kummer hatte er gefühlt bislang, der Kummer paßte gerade mal in das Schälchen. Dies
     war bestimmt, so vermute ich, die Handreichung einer Frau, die ihm zugetan oder verfallen war, die Schalenscherben sind alle
     enthalten, und ich habe sie mit herkömmlichem Leim zusammengeklebt. Diese Frau also brachte den Mut auf, den Junggesellen
     zu beschenken, und da sie wußte, daß er sich die Mahlzeiten versüßte, gab sie das Schälchen her …
    Der Mann am anderen Ende der Leitung, der junge Regisseur in Prag, lauschte der Stimme seiner Frau, die es ablehnte, sich
     von ihm scheiden zu lassen. Sie brachte ihn durch ihre gelegentlichen Anrufe dazu, mit dem Rücken am Geschehen zu sitzen,
     das Geschehen und die Geschehnisse, das waren Theaterrevolten, das war der Irrsinn, der eine Schauspielerin anging, weil sie
     ein Mottenloch im Ärmel ihrer Auftrittsrobe entdeckte. Und jetzt aber hörte er ihr zu, seiner Frau in Krakau, nein falsch,
     seiner Frau in einem Krakauer Kellerloch, sie war geflohen, um sich im Dunkeln aufzuhalten, soviel hatte er verstanden, die
     Gasse vor ihrer Haustür nannte sie ›die vom Wind umheulte Galgenschanze‹, und selten, meist bei schwindendem Tageslicht, verließ
     sie das Haus und schaute sich nach einem Liebhaber um, sie klärte ihn über ihr ›polnisches Leben‹ auf und blieb ehrlich, hart
     und gerecht. Ihre traurigen Funde.
    Ihr Vermieter hatte vor Jahren dem Geschehen den Rücken gekehrt und angefangen, den Weinkeller in alle vier Richtungen zu
     erweitern, und daß man ihn heute noch einen Mann im Dachsbau schimpfte, störte ihn nicht, schließlich führte er manchmal,
     mit der Erlaubnis seiner neuen Mieterin, ausgewählte Frauen durch die freigelegten Gänge und Räume. Obwohl der Regisseur diesen
     Mann nur aus den Erzählungen seiner Frau kannte, mochte er ihn – wer viele Nachrufe überlebt hat, empfindet eine eigentümliche
     Sympathie für die Linkischen, für jene, die am Ende leblos in einer Wohnung gefunden werden, für jene, die derart verwirrt
     sind, daß sie einen Bezugsschein für Luft beantragen, also empfand der Regisseur für seine Frau Olivia … keine wirkliche Liebe
     mehr. Was dann?
    Er liebte nur noch ihre Stimme, denn wenn er sie nicht sah, wenn sie sich vor ihm und den anderen gewöhnlichen Bürgern verbarg,
     war sie in ihren Bewegungen eingeschränkt, sie sprach in diesem ihrem Zustand der Entrückung mit dunklerStimme über die traurigen freigescharrten Tonscherben, über gußeiserne Türklopfer in der Vase, die sie neben die dicke halb
     heruntergebrannte Altarkerze gestellt hatte, sie sprach von den Rattanstäben, Mahagonisamen, Thikanutzapfen und Affenbrotbaumfruchtkapseln
     in den hohen Glasschalen: Sie verwahrte ihre kleinen Güter – ihren schönsten Besitz – im Keller, im Untergrund ihres Mietshauses.
     (Die Verwirrung des Regisseurs ist echt. In der Zeit, da sie das Ehebett teilten, wäre es Olivia nie eingefallen, ihre fingerlangen
     oder handtellerbreiten Besitztümer aufzuzählen. Einmal war sie vom Laut einer herabfallenden Kastanie wach geworden, an einem
     Dienstagmorgen im Oktober, und sie hatte aber die Augen nicht geöffnet, weil sie spürte, daß ihr Mann ihr Gesicht anschaute,
     und hätte sie sich geregt, hätte er ihre Lippen mit der Zungenspitze geleckt. Diese Zeiten sind vorbei. Es gibt für sie andere
     Beschäftigungen, sie sammelt kleine Dinge oder bekommt sie geschenkt, und wer sie etwas besser kennt, liest im Augenblick
     der Geschenkübergabe in ihren Augen die Wut einer Sammlerin – sie wird ein weiteres Stück ihrer Sammlung einverleiben müssen.
     Doch der Ärger vergeht rasch. Neben ihren vielen Ängsten ist auch die große Angst, daß das Haus absackt und sie unter sich
     begräbt.)
    Drei oder vier Pflaumen, flüsterte Olivia in den Hörer, das war die Nachspeise des Mannes mit dem müden Gesicht, ich habe
     die Kerne gefunden, weil ich an einer dunklen Stelle in der Erde gewühlt habe, nur ein dünner Lichtstrahl fällt darauf, deshalb
     habe ich mich nicht dorthin gewagt, ich stelle mir seit meinem Fund vor, wie der Mann sich wie ein Kind freut, wenn die Kerne
     in das Schälchen auf seinem Schoß fallen …
    Olivia hielt

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