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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Weltkriegzeit nichts
     zu sehen.
    Dort schlug keine ruhelose Seele einen Kochtopf gegen den Stein. Dort lag nur ein eingerahmter blinder Spiegel auf dem Boden.
     Sie zupfte vorsichtig an einer gelben Ader und zog sie langsam ab, dann legte sie die Schale auf die breite Armlehne und blinzelte
     einen Tagtraum weg, in den sie sich versenkt hatte, sie sprach mit fester Stimme von ihrer Herbstlaune, und daß es sie trotz
     seiner Bitten und Warnungen zur Grotte zog, der Spiegel und die Nachttöpfe im Haufen interessierten sie kaum, nur die dunkle
     Stelle …
    Sie hätte Angst, dort alleine zu graben, und aber sie wünschte sich so sehr, auf andere Funde zu stoßen, es sollte alles so
     bleiben, wie es war, das war ihr Wunsch, es sollte nicht alles in seine Einzelteile zerfallen, und wenn sie aber hier, unter
     dem Haus und unter der Straße, von den begrabenen Bruchstücken wußte, dann konnte sie nicht länger in aller Ruhe ihren Entschlackungstrunk
     aus Gurke, Karotte und Petersilie zubereiten. Eine feuerrote Furche durchzog die Bilder ihrer Tagträume, sie waren zweigeteilt,
     und auf der Stirn der Männer der Kinder der Frauen in den Nachtträumen sah sie blasse Narbenwülste.
    Sie war schön verrückt – wann hatte es angefangen? Er hatte die Nachbildung einer spätmittelalterlichen Assistenzfigur gekauft
     und den Fehler begangen, Olivia, dieser anfälligen Tschechin, die Skulptur zu zeigen: Ein Äffchen, auf dem mehrfach gekringelten
     Schwanz hockend, hielt die sogenannte Steintafel der Weisen vor die Brust. Vom verdorrten Feigenbaum kopfüber herabhängende
     Verdammte zeichneten mit dem kleinen Finger Orakelworte in die Luft, die Gesichter der Weisen waren vom Bodennebel verschleiert,
     da und dort sah man spitze Nasen herausragen, da und dort hatte sich das Seil gelöst, und ein Bein stand vom Körper ab. Die
     Zeile aufder unteren Steinfalz war unleserlich, und so konnte jeder dies Bild des Elends deuten, wie er wollte. Olivia las in die
     Tafel ihre eigene Versteinerung hinein. Es half nichts, daß Heliodor sie zum Antiquar mitnahm – eine ihrer seltenen Ausflüge
     in die Obererde –, es half nichts, daß der Antiquar ihr von der Erzfeindschaft der Alten gegen die Neuen erzählte: Das Äffchen
     hatte vielleicht in der Krone des immergrünen Baums der Erkenntnis gehockt und die träge auf den Ästen hängende Schlange mit
     einem gezielten Schlag auf das Maul geweckt, und weil das Äffchen ein Luftgeist war, nicht mehr als ein Meister der rettenden
     Luftsprünge, nicht mehr als ein Geschöpf mit einer Gottheit im Herzen, wurde die Schlange mit der Aufgabe betraut, sich einzuschleichen,
     einzudringen in die verbotene Zone – Adam nannte sie den Tatarenpfeil des Teufels, für Eva bestand kein Anlaß, sie anders
     als die träge Schlange anzusprechen. In diesen Details erging sich der Antiquar, er flehte Olivia sogar an, die Skulptur wie
     ein gut erhaltenes Schmuckstück aus einer finsteren Epoche anzusehen, die Weisen würden Ratespiele hassen, sie würden grübeln,
     tüfteln und erfinden, im Gegensatz zu den Söldnern eines Glaubens, der Haß und Zwietracht säte.
    Heliodor gestand sich ein, daß es ein Fehler gewesen war, eine anfällige Frau mit einem detailverliebten Mann bekannt zu machen.
     Olivia ließ sich nicht überzeugen, sie starrte jeden Tag auf die Steintafel und entdeckte fast jedesmal eine Kleinigkeit:
     Die Weisen, allesamt Männer, trugen luftige Kleider, durchsichtige Überfallhosen und Hemden, deren Saum aus lauter Zipfeln
     bestand; dort, wo der Nebel zerriß, waren Fratzen in das Relief eingemeißelt. Der Feigenbaum trug zwei Früchte, eine Frucht
     umgriff eine himmlische Hand …
    So also hatte alles angefangen, und jetzt saß Heliodor wie gelähmt auf dem Korbstuhl und verweigerte ihr jede Hilfe bei ihrer
     Suche, denn er suchte nicht, er wollte nichts finden, es wäre ein guter Augenblick, sie fürsorglich zu entkleiden undzu lieben, ihre Augen mit der Hand zu bedecken, daß endlich der feuerrote Geist in ihr die Zeit der Ungezügeltheit ausrief.
     Aber nein. Vielleicht stürzte sie sich zu Tode, wenn sie alleine voranstolperte. Aber nein.
    Er bat sie, auf dem Fleck zu verharren, er stürmte hoch und kam wenig später mit einer Taschenlampe wieder, und als er das
     Licht der Lampe kurz über ihr Gesicht wandern ließ, lächelte sie ihn an und sagte: Ich habe nur geblinzelt, komm, wir wagen
     es … Ihre kleinen Lügen. In der Zwischenzeit hatte sie die Wolldecke gefaltet

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