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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Budapest bis zum nordwestlichen Plattensee in knapp
     zwei Stunden, und nachdem sie eine kleine Flasche Mineralwasser ausgetrunken hatte, sagte sie: Es war keine gute Idee, herzureisen,
     und ich weiß nicht, ob es vernünftig ist, wieder zurückzufahren. Zoltan sagte: Die Kämpfe sind vorbei. Verlieb dich endlich
     in den richtigen Mann. Ich werde jedenfalls das Andenken meines Vaters in Ehren halten, und aber seine Ideen zum Teufel jagen.
     Sie sagte … nichts. Es war entschieden. Ferda begegnete dem Bademeister, sie gingen schweigend aneinander vorbei.)
    Was hatte ich erwartet? Zuverlässig und pünktlich war ich immer gewesen und mußte aber immer und überall warten. Der Regionalzug
     – ein bolschewistisches Wrack – fuhr mit halbstündiger Verspätung ab, und ich fiel in einen leichten Schlaf, aus dem mich
     eine böse Kraft riß, der alten Dame im Doppelsitz gegenüber fiel ein Sahneklecks auf die Hose, als sie den Löffel Eis zum
     Mund führte, ein Streifen Licht wanderte über den Gang des Abteils, ein von Mückenstichen zerstochener linker Unterarm hing
     schlaff herab: Dies waren die Bilder, die sich in meinem Kopf festsetzten. Immer nur dem Zug der Touristen folgen. Also strebte
     ich im Budapester Ostbahnhofzu der Metallgitterschranke im vorderen Steigabschnitt, die Kontrolleure in Warnwesten ließen uns durch eine schmale Lücke
     passieren, ich rannte zwischen den Bahnsteigen hin und her und fragte schließlich eine Angestellte an einer Schranke, wann
     der nächste Zug nach Prag fuhr – nix, sagte sie, tot. Dann zückte sie einen Kugelschreiber und schrieb auf ihre Handinnenfläche
     eine Zahl, ich mußte viereinhalb Stunden warten, nix und tot, wiederholte sie.
    Ich dankte ihr mit einem Nicken und eilte in das Bahnhofsrestaurant ›Baross Etterem‹, der bolschewistische Staub hatte sich
     in die Wände, in die Möbel und in den Frack des Oberkellners hineingefressen. Er aber sagte: Sie, lieber Herr, sehen aus,
     als seien Sie vom Matsch in die Pfütze gekommen … Ich bin in eine Gegend gereist, die mir nicht gefallen hat, sagte ich. Er
     brachte mir das Tischzeug für einen ermatteten Mann, mit diesen Worten stellte er den Becher Kaffee und das Glas Cola auf
     den Tisch, ich wunderte mich nicht, daß er auf dem freien Stuhl Platz nahm. Bald ist die Zeit des fallenden Laubs, sprach
     er, und bevor Sie fragen, ich bin ein Donauschwabe, es gibt viele von uns im Budapester Exil, und bevor Sie die zweite Frage
     stellen, nein, ich hege keine Hintergedanken, ich will mich nur eine Weile mit Ihnen auf deutsch unterhalten. Wenn es nicht
     zuviel verlangt ist, würde ich gerne wissen, wie der Herbst in Deutschland beginnt … Die Zweige, also die Ästchen, wiegen
     sich leichter im Wind, sagte ich, und manches Blatt, das sich vom Ästchen gelöst hat, wird hochgewirbelt und fliegt gegen
     die Fenster. Wegen des Herbstlaubs sind die Hunde schreckhafter, sie bellen jede Wade und jede weggeworfene leere Tüte an.
     Die Männer stehen verträumt an den Leergutautomaten, die Großmütter suchen öfter den Damensalon auf, und wenn die Friseurin
     ungeschickt am Schwenkarm der Trockenhaube rüttelt, fürchten sie sich. Die Frauen verlieren seltener einen Lippenstift oder
     einen Handspiegel – wie ist es hier bei Ihnen?
    Das Tauziehen der Flöhe beginnt, sagte er, das heißt, die Flöhe zerren nicht an einem Tau, aber an einem Bindfaden. Das ist
     nur ein Bild, und das Bild steht beispielsweise für die fliegenden Geldwechsler in der Bahnhofshalle und auf dem Vorplatz.
     Sie stellen sich jedem Ausländer in den Weg, der in der Wechselstube zum offiziellen Kurs Euro in Forint wechseln will. Es
     gibt aber auch andere Flöhe. Die Zeitschriftenhändlerin drüben – sehen Sie bitte nicht gleich hin – verkauft pornographische
     Magazine, und das viele Geld, das sie damit verdient, zahlt sie auf ihr Sparkonto ein. Welchen Traum möchte sie verwirklichen?
     Ich weiß es nicht. Wir Flöhe in diesem Restaurant weisen die Gäste auf den Aufdruck auf den Zuckertüten hin, es gibt uns schon
     seit achtzehnhundertvierundachtzig, bald werden wir anderthalb Jahrhunderte alt sein. Andere Flöhe springen einfach von einer
     Hautpore zur nächsten, von einem Haar zum nächsten.
    Natürlich verstand ich den Oberkellner nicht, und es war ihm anzusehen, daß er mir wegen meiner fehlenden Weisheit grollte,
     er ließ mich trotzdem stundenlang am Tisch sitzen und brachte mir ›das Herrengedeck‹: zwei Scheiben Schmalzbrot.

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