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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Taschenlampe wanderte über Stein und Schutt,
     über den verschönerten grauen Beton, über den an rauhen Stellen festgebackenen Kleister.
    Und sie traten in ein Haus und gelangten über die Hintertür in den ersten, den zweiten und in den dritten Hinterhof, und dort,
     auf einem pockigen Untergrund, entdeckten sie Dutzende von selbstklebenden Paketzetteln, die mit Hundertenvon knallroten Rehkitzen bestempelt waren. Er ging in die Hocke und kümmerte sich nicht darum, daß seine Mantelschöße über
     den schmutzigen Boden wischten. Sie raffte ihren Mantel und kniete sich neben ihn. Aus der Nähe betrachtet verschwammen die
     Rehkitze zu einem roten Schleier, sie schaute ihn von der Seite an, das Licht glitt über die Aufschriftzettel von oben nach
     unten, von rechts nach links, und plötzlich stieß er einen kurzen Schrei aus, der sie jäh hochfahren und zwei Schritte auf
     Abstand gehen ließ, doch er drehte sich um und bat sie, wieder näher zu treten. Erst nach einigem Zögern folgte sie seiner
     Bitte.
    Siehst du … Sehen Sie die lange Zeile oben an der Kante? sagte er, und sie sah hin und las die Zeile: Einlieferungsnummer
     (Barcode, falls vorhanden)/No de l’envoi (code à barres, s’il existe) n.
    Der Buchstabe n ist mit Kugelschreiber hinzugefügt, fuhr er fort, er macht eigentlich keinen Sinn. Wenn man aber genauer hinsieht,
     erkennt man die Punkte unter bestimmten Buchstaben der Zeile, es sind vier Buchstaben in dem Wort Einlieferungsnummer und
     ein Buchstabe in dem Wort falls markiert, nämlich das E , das n , das g , das e und schließlich das l – das ergibt das Wort Engel .
     In den französischen Wörtern barres und existe sind die Buchstaben b , e , x und e unterpunktet – wenn man das n hinter der
     Klammer dazugibt, kommt man auf das Wort bexen . Engel bexen . Es gibt in dieser Zeile kein c nach dem Wort barres . Also verweist
     er auf das Engelbecken , dort werden wir ihn oder eine weitere Spur von ihm finden. Entweder führt er uns in die Irre, oder
     er gibt hier seine richtige Adresse an. Er hat uns nicht den Gefallen getan, seine Hausnummer zu hinterlassen.
    Und sie fuhren mit dem Taxi nach Kreuzberg, sie war sich sicher, daß irgend etwas falsch war, sie saßen beide auf dem Rücksitz,
     der Anstandsabstand von anderthalb Handspannen wurde gewahrt, und bevor sie sich weiter den Kopf zerbrechenkonnte, wandte er sich plötzlich zu ihr um und sagte, sie sollte es bitte keinesfalls als Desinteresse seinerseits werten,
     weil er sie nicht nach ihren Interessen fragte. Damit hatte er ihr Gefühl benannt, und da sprudelte es aus ihr heraus – sie
     fing an zu erzählen, nicht gehemmt nicht zögerlich, sie war für einige Jahre Lehrerin gewesen und hatte Gymnasiasten in Englisch
     und Französisch unterrichtet, dann kam es zu dem Übergriff eines Schülers, er attackierte sie eines Morgens mit einem Messer,
     es blieb nicht nur bei Drohgebärden, er stach zu, mehrmals. Sie überlebte. Sie ging in Frührente. Sie zog um nach Berlin.
     Sie beging nicht den Fehler, einem Mann völlig zu vertrauen oder sogar bei ihm einzuziehen. Und an Heirat hatte sie an keinem
     Tag ihres bisherigen Lebens gedacht, das würde auch so bleiben … Sie wußte, er hatte nicht von ihrem Vorleben, sondern von
     ihren Interessen gesprochen, aber einem frisch Entlassenen würde sie, bei aller Sympathie für seine gemäßigte Verrücktheit,
     nicht mit weiteren Auskünften dienen können.
    Er bezahlte, sie stiegen am Oranienplatz aus und gingen durch den Park, und als sie unter dem kleinen Viadukt standen, sagte
     er: Wir sind nicht mehr in Kreuzberg, wir sind in Mitte. Er tat so, als wäre er auf einer Ortsbegehung und hätte sie mitgenommen,
     und sie mußte ob seiner ernsten Miene laut lachen. Daß er sie unbewegt ansah, spornte sie an weiterzulachen, und als ihr Lachen
     verebbte, erzählte er grinsend, daß es früher Schwäne gegeben habe, die auf dem künstlichen See geschwommen wären, ein schönes
     Stück Brachland, fast ein Streifen aufgegebene Erde, und jeder, der in der Nähe wohnte und den sorgenvolle Gedanken plagten,
     wäre hier spazierengegangen. Der Wildwuchs der Schilfrohre mit den Zigarrenkolben an der Spitze und sogar der Lärm des Muldenkippers,
     der den Hydraulikarm ausfuhr, hätten nichts ausgemacht.
    Überall das gelöste Gestein. Überall alles unfertig. Vom Wind aufgebauschte weiße Plastiktüten trieben auf derWasseroberfläche, und sie sah Plastikfeuerzeuge auf dem Seegrund, sie hörte

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