Hinterland
ein eigenartiges leises Geräusch, er hatte eine
neue Zigarettenschachtel aufgerissen, die geknüllte Zellophanhülle in seiner Manteltasche knisterte nun auf – sie sollte
schon ohne ihn hineingehen, in das Café, sie sollte für sich schon bestellen, er müßte noch rauchen. Sie blieb bei ihm und
erzählte von dem Schüler, der es als schönen Spaß verstand, sich rote Gummibänder um die Nase zu wickeln, und sie von einem
gewöhnlichen unbedeutenden Tag an als Frau Opfer ansprach, die Mädchen in ihrer Klasse hatten gelacht und gelacht. Es hagelte
Verwarnungen für ihn, auch in anderen Fächern, auch in anderen Schulstunden spottete er über die Lehrer, und sie verwarnten
ihn, aber er war wüst, man konnte ihn nicht kleinkriegen, und daß er in das Holz seiner Schulbank Losungen der Aufsässigkeit
ritzte, sorgte nicht für Aufsehen. Und daß er einem Mädchen ins Ohrläppchen biß, konnte man als Beziehungsproblem abtun, denn
dieses Mädchen war allen Lehrern ein Dorn im Auge, es hatten sich eben zwei Asoziale gefunden. Und tatsächlich trieb es den
Jungen zu einem Meisterstück, und sein Liebchen feuerte ihn an, ich war die Frau Opfer, und da machte er mich zu seinem Opfer.
Als sie eintraten, fiel ein butterbeschmiertes Brötchenmesser auf den Boden, und der helle Klang ließ ihn zusammenfahren,
sie setzten sich wieder aufs Sofa (wahrscheinlich war es für die Berliner Cafébetreiber billiger, die Räume mit altem Trödel
vollzustellen). Man hatte es nicht eilig hier, die Tresenkraft war ein junger Vater im geblümten Hemd, er spielte mit seiner
Tochter, und seine Frau schaute ihnen zu. Am Nebentisch sagte ein Mann zu einer Frau: Denkst du vielleicht auch an etwas?
Hast du den Kopf nur zum Haaretragen?
Sie verstand nicht, weshalb Franz nicht nach den Zeichen des Fotografen Ausschau hielt, ihr waren keine Rehkitzzettel aufgefallen,
vielleicht folgten sie einer falschen Fährte. In den Stunden, die sie mit ihm verbracht hatte, war sie wederverwandelt noch verzaubert worden, sie war nur hingerissen von der Möglichkeit, einem Dieb und Einbrecher zu folgen, auch
wenn es für ihn ein Vorleben und ein Nachleben gab, auch wenn er nach der großen Dumpfheit in seiner Zelle einen ersten Triumph
bei der Spurensuche feiern konnte – kein Mensch konnte sich ungestraft verwandeln. Während sie auf den jungen Vater warteten,
sprach sie ihn darauf an, es kostete ihn keine Mühe, ihr zuzuhören, dann antwortete er im leisen Ton, dabei hatte sie keine
Frage gestellt: Ich beschäftige mich allein damit, wie ich es dem Kerl heimzahlen kann, der Angeber hat mich zu Fall gebracht,
keine Angst, ich werde ihm nicht weh tun, ich werde ihn nur stellen, denn diese Leute kennen kein Maß, für ihn ist es gewesen,
als hätte er eine Büroklammer aus der Form gebogen: Ich werde versuchen, zu ihm durchzudringen …
Er brach mitten in seiner Aufzählung der Gründe ab, die ihn im Gefängnis bewogen hätten, über die Bekannten nachzudenken,
über die Beschaffer, die Betrüger, und über die Betreuer der Betrüger, das waren solche Männer wie der Flitzer, er konnte
schon allein wegen seiner vorgetäuschten Blindheit nicht schneller laufen als ein tapsendes Kind, er war aber meisterhaft
darin, fast alles zu sehen und nichts von seinem Wissen ohne Lohn preiszugeben. Wieso freut er sich über einen Ritter? sagte
sie, er ist doch ein erwachsener Mann. Die Antwort blieb er ihr schuldig, der junge Vater drückte ihnen die Getränkekarte
in die Hand, dann bewegte er sich langsam wieder zurück zum Tresen, und sie starrte gebannt auf den plattgedrückten Haarwirbel
an seinem Hinterkopf.
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Erst der junge Bruder, dann der Franz, dann der Haihappen – Tage gibt’s, die sind nicht schön. Keiner von den dreien war mir
wirklich recht. Was sollte da herauskommen? Frageeins: Hast du meinen Bruder gesehen? Frage zwei: Wer hat mich verpfiffen, und wo steckt der Mann? Frage drei: Was fällt dir
ein, ihn zu mir zu schicken, das ist ein Verbrechen? Alles richtig. Die Frau an seiner Seite steht eine Klasse und zwei Leitersprossen
höher als wir alle, die wir durch viele Viertel zogen, aber nur Nachbarn in einem Bezirk waren. Sie betrachtete mich, und
ihr Mißtrauen wuchs, doch ich hatte Hoffnung, daß es verging mit der Zeit, wenn sie dabeiblieb, würde sie sich in seinen Kreisen
bewegen, vielleicht mochte sie den Franz heraufziehen. Kaum zogen sie in ein anderes Viertel, zupften
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