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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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traf sich mit anderen Westberliner Damen im Restaurant Silberterrasse im fünften Stock, Anka nannte ihre Frauengruppe die
     KaDeWe-Karos, weil sie alle Röcke mit Viereckmuster liebten … Sollte sie ihm davon erzählen? Sie wunderte sich über ihn, er
     hatte für das Spielzeug bezahlt und es nicht in einer seiner Taschen verschwinden lassen – sollte sie die beiden miteinander
     bekannt machen, die Zimperliche mit dem Rabiaten? Doch würde Anka diesen Mann nicht den Verlotterten zuschlagen, jenen Kerlen,
     die in Gammeltimpen zu ihresgleichen stießen? Ihrer Meinung nach mußten Männer schon am Frühstückstisch eine Krawatte tragen,
     denn die Halsschlinge drosselte die Blutzufuhr in den Kopf und verhinderte einen morgendlichen Blutrausch – eine abstruse
     Theorie, dachte sie, auch wenn sie selbst ungern unordentlichen Männern verfiel. Und so fragte sie ihn, ob er wüßte, was eine
     Gammeltimpe sei, und er sagte: Gammlerlokal, und bevor sie zu einer Erklärung ansetzen konnte, sagte er: Dort sind auch Frauen,
     die sich froh singen.
    Am Bahnhof Zoo kniete er sich hin, um sich die Schnürsenkel zuzubinden, und sie hörte eine junge Frau in buntgestreiften Überziehstrümpfen
     in ihr Mobiltelefon sprechen, die fremde Sprache war weicher als Russisch und härter als Polnisch, es waren aber Vermutungen,
     sie kannte weder einen Russen noch einen Polen. Ein Gitarrenkasten lag vor ihren Füßen. Wenig später standen sie auf dem Vorplatz
     einer Kantine, ihr behagte es nicht, einem blinden Obdachlosen vorgestellt zu werden, deshalb verschwieg sie ihren Namen,
     der Blinde und der Mann im Kamelhaarmantel gaben einander die Hand, sie hießen Franz und Fritz, und es erheiterte sie. Sie
     dachte sich einen Werbespruch für ein neues Spülmittel aus: Blitzblank mit Fritzfranz. Wenn man diesem Fritz Bart und Haar
     abschnitte, käme vielleicht ein nicht so mürrischesGesicht zum Vorschein, aber diese Männer ließen sich nicht herunterhandeln, und sie waren bestimmt nicht aufgelegt, Ratschläge
     von Frauen anzunehmen. Franz gab dem Mann den Plastikritter, und seltsamerweise hielt der Blinde den Ritter vor die Augen
     und starrte ihn an, sie täuschte sich nicht, er betrachtete sein neues Spielzeug und sagte: Ich bin hingerissen.
     
    Man kann nur hingerissen sein oder nichts sein, dazwischen ist nur geschmolzener Schnee. Ich muß mich nicht vorsehen, da keine
     geruchsempfindliche Frau zu Hause auf mich wartet. Sie hat gleich gemerkt, daß ich meine Blindheit nur vortäusche, das ist
     ein kleiner Spaß, den ich mir erlaube. Ihren Namen kenne ich nicht, das ist der Spaß, den Sie sich erlauben. Also gut, Franz,
     ich bin es dir schuldig, zu erzählen, welcher Teufel den Fotografen geritten hat, daß er dich ans Messer lieferte, du siehst
     aus, als hättest du die Zeit in der Zelle einigermaßen gut überstanden. Er aber blieb verschont, obwohl das Gerücht die Runde
     macht, eine schöne Frau hätte sich in ihn verliebt, lange her das, immerhin eine Zuneigung von unerwarteter Seite. Seine Seele
     ist eine große Landkarte. Hat er gesagt, jedem und jeder, und es hörte sich doch wie eine Verheißung an.
    Der Fotograf gehört zu denen, für die die Selbstversenkung tagtägliche Pflicht ist, ich lass’ das sein, was kommt schon dabei
     rum, mit Scherereien kenn’ ich mich aus. Ärger hab’ ich jeden Tag am Hals, der Wachtmeister da drin setzt mir zu, er ist nicht
     verbogen, er ist nicht gerade. So wie der Fotograf: Er hat sich in Hunderte von Schnipseln zerrissen, und jeder, den er fotografierte,
     war und ist ein Schnipsel, er hat seine Papierseele verschnipselt. Einmal sprach er mich an, ich war sehr überrascht, weil
     er mich wegen meiner Täuschung der unversehrten Menschen geringschätzte, er sprach von der Auslösesumme, die er bei jedem
     Schnappschuß zu bezahlenhätte – jeder, der für ein Foto posiert, verkauft ein Stück seiner Seele, bei ihm verhielt es sich anders, er sammelte nicht
     Seelenstücke und paßte sie zusammen –, der Fotograf hatte eine Schamstelle: War das sein Kopf? War das sein Herz? Waren das
     seine Finger, die auf den Auslöser drückten?
    Bei dir jedenfalls hat er den entscheidenden Moment nicht verpaßt, du bist in den Antiquitätenladen im S-Bahn-Viadukt eingebrochen,
     der Mann trieb sich oft in der Dircksenstraße herum, du hättest es wissen müssen, das war und ist eine bevorzugte Gegend für
     die modernen Hyänen. Tu ich dem Mann unrecht? Nein, schließlich hat er dich

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