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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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die jungen Leute an
     mir herum, und ich gab in dieser Sekunde meine vorgetäuschte Behinderung auf und sah hin zu der schönen Bulgarin, die aus
     der Kantine kam und wie üblich nicht einging auf die hingejohlten Versprechen der Jungen, die nur mit kleinen Zirkusnummern
     glänzen können. Ich stahl mich weg, ich war nicht blind, ich fiel nur durch leichtes Hinken auf. Der Winter war eine verhüllende
     Jahreszeit, die Alten konnten kleine Plätze besetzen, ohne aufzufallen, sie konnten Rollkragenpullover tragen, um ihre Truthahnhälse
     zu verstecken. Ich hinkte zum Bahnhof Zoo, stieg ein, fuhr ein paar Stationen, und dort, wo ich ankam, sah ich sofort, daß
     etwas nicht stimmte. Der Weststandard hatte die Ostberliner nur mürrischer gemacht, und die Alten mußten den Jungen aus dem
     Wege gehen: Dieses verdammte Gefühl, bei jedem Schritt müder zu werden. Froh war ich nur, weil ich es vor Streikbeginn in
     meine vertraute Gegend geschafft hatte.
    Ich suchte den Mann auf, der sich keine Musik- und Buchtitel merken konnte, er stellte mir einen lauwarmen Kaffee auf den
     Tisch, den Schnaps trank er allein, den Schnaps teilte er nicht, und bevor ich den Versuch unternahm, mich vorzuwagen, sprach
     er vom roten Franz – früher hatte Franz immer rote Hemden getragen –, der herumlief wie ein Widergänger und die Ruhe der Lebenden
     störte. Wen hatte er sich da angelacht?Den hatte man doch als Eigenbrötler in Erinnerung. Wie kam er auf die Idee, bei den Leuten anzuklopfen, wo er doch wußte,
     daß wir ihm erstens nix schuldig waren. Und zwotens, in unseren Verstecken fühlten wir uns nicht sicher und nicht wohl. Ein
     Jagdhund wie der rote Franz brach das Gesetz und verstieß gegen unsere Regeln. Der teilte nach beiden Seiten aus. Der bekäme
     von beiden Seiten eingeschenkt. Er wäre der Letzte, der die Meute anlockte, bei Franz hätte er jetzt große Bedenken.
    Ich trank seinen kalten bitteren ungezuckerten Kaffee und ließ ihn eine Weile toben, es gab wenig, über das er nicht schimpfte,
     er hielt sich an den Satz: Nicht geschimpft ist genug gelobt. Widersprechen wollte ich schon allein deshalb nicht, weil ich
     Schulden bei ihm hatte, ein geplatztes Geschäft, das das von mir hineingesteckte Geld verschlang. Seiner Frau ging ich aus
     dem Weg, sie war zu ihrer Schwester in Deutschlands Mitte verreist, ich konnte also, wenn ich ihn nicht zornig machte, im
     Gästezimmer schlafen. Den Schnaps sollte er mal endlich teilen, die Zeit meiner Bitten war aber längst vorbei, er schlich
     sich in die Küche, und als er wieder zurückkam, leckte er sich über die Lippen.
    Wird er ihn finden? sagte ich. Das wär’ nicht gut für uns beide, sagte er. Und ich versicherte ihm, daß ich keinen Fehler
     begangen hatte, wir waren doch vorbereitet gewesen auf Franz’ Entlassung, der wäre doch erledigt gewesen, schon vor seinem
     Fall, wenn er an den Tischen vorbeiging, mußte er die Tischkanten mit dem Handrücken streifen, ein übler Tick, der mußte die
     Innenseite des Trinkrands eines jeden Amarettobechers, den er leer getrunken hatte, sauberlecken, noch ein übler Tick. Franz
     war nicht dumm, er brauchte nur einen, der eine Leitersprosse höher stand als er, er brauchte diesen Freund, der ihm seine
     Spielwiese zeigte. Damals hing an seiner Küchenwand ein Jahreskalender ohne Einträge, und weil ich den kommenden Niedergang
     in den Knochen spürte, warich immer kurz davor, aufzuspringen und einen Tag im Kalender anzukreuzen, den Tag, da die Häscher ihn einkassieren würden.
     Wir wußten es doch alle, Aufschwung Abschwung, rauf und runter, Gesetz und Regel, da konnte man Wetten auf den Ausgang abschließen,
     und als er nach einer großen Nummer viel zu früh sein Versteck verließ, dämmerte es uns: Den Bruder zu hüten ist falsch. Sich
     vor dem Bruder zu hüten ist richtig …
    Ich war verrückt, daß ich diese Worte aussprach, er haßte lange Vorträge, wir beide hatten Franz in die dunkle falsche Richtung
     gestoßen, und was wäre, wenn Franz den Fotografen fand? Es war an der Zeit, meinen mürrischen Gastgeber in Ruhe zu lassen,
     ich bat ihn um Rasierseife und einen Einwegrasierer, und weil ich ihn zu meiner Verblüffung nicht verärgert hatte, durfte
     ich mir im Bad das Gesicht freikratzen. Ich war nicht mehr blind. Ich trug keinen Bart mehr. Im Gästezimmer starrte ich auf
     das antike dunkel gebeizte Tellerbord, auf dessen Brettern alte Warmhalteteller für Kinder hochkant standen, und ich erinnerte
    

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