Hinterland
aufhob und dem Mann im Anzug reichte, verstrich dieser Augenblick
der Unruhe, er erkannte seinen Neffen wieder und sagte: Du hast dir die langen Haare geschnitten, und du trägst einen gelben
Pullover. Zum ersten Mal in meinem Leben, sagte der Schuhmacher, ich komme mir vor, als hätte ich mich verkleidet … Sind das
deine Genossen? Sie sind mir vor allem sympathisch, sagte sein Neffe und bestätigte ihn in dem Verdacht, daß er sich nicht
wirklich verändert hatte, er war eine Umleertonne für Ideen, und er machte sich immer eine Vorstellung von der Welt, obwohl
ihn niemand drängte. Was ist zivilisiertes Verhalten? hatte er ihn vor Jahren gefragt, jetzt erinnerte er sich an seine komische
Antwort: Wenn man die Buletten, die man gegessen hat, nicht mehr an den Fingern abzählt, gilt man als zivilisiert. Ist es
das versteckte oder das verratene Wohlbehagen – darüber streiten sich die Gelehrten … Und er lud ihn ein, viel zu spät entdeckte
er die Zweifachstecker in seiner Hand, das weiße Stromkabel führte zum Hals eines Hundes, der ihn seelenruhig anstarrte, nein,
er schaute ihn neugierig an. Beißt er die Hand, die ihn streichelt? sagte er, und ohne die Antwort abzuwarten, kraulte erihm … kraulte er ihr den Kopf. Wenig später saßen sie auf dem Balkon der Konditorei, Bener Bej hatte den protestierenden
Hauptkellner einfach bestochen, und Belinda durfte sogar vom Teller zwischen den Stuhlbeinen unter ihrem Tisch gefüllte Krapfen
in süßem Sirup fressen. Er fütterte eine unbekannte Hündin, und er sprach mit einem fast unbekannten Neffen. Worüber? Über
die Muttermörderin. Bener Bej hatte eine Entschuldigungsrede erwartet, wie sie gerne die Auswärtigen hielten, sie wollten,
auch und vor allem im Urlaub, nicht davon lassen, die Einheimischen zu beschämen; doch seinem Neffen taten die toten Mütter
in ihren Gräbern leid, er verlor kein Wort über die meuchelnden Töchter, er wollte ihn schon fragen, ob Geisterhände das Messer
geführt hatten und ob die Entrüstung junger Männer über die Untaten junger Frauen nicht mißverstanden werden könnte. Da legte
die Hündin ihren Kopf auf seinen Oberschenkel und schloß die Augen. Er verstand: Kein Streit. Bevor sich die Radikalen in
Bewegung setzten, hatten sie der Polizei insgesamt vier Megaphone aushändigen müssen; diesmal gab es keinen Anlaß, sie einzukesseln,
diesmal schritten die Polizisten nebenher … Bener Bej hörte nicht mehr richtig hin, er wartete eine Kunstpause seines Neffen
ab und zeigte auf das Buch, das ist das Gebetbuch deiner Großmutter, von dem ich dir gesprochen habe, ich werde das Sippentreffen
nicht erst abwarten, sagte er, nimm es und halte es in Ehren, bei dieser Gelegenheit möchte ich dir verraten, wieso ich den
Kontakt zu dir abgebrochen habe: Es gibt keinen Grund, es hat sich eben ergeben. (Jede kleine Lüge, die man um des lieben
Friedens willen erzählt, ist natürlich gerechtfertigt. Bener Bej glaubte seiner Frau sofort, als sie von dem häßlichen Vorfall
in der Küche erzählte. Die Männer seiner großen Familie faßten sich zu oft ans Herz und machten sich damit in seinen Augen
verdächtig. Also warf er in seinem Zorn nicht Teller an die Wand oder biß sich in die Faust. Nein. Er entschied, daß erfür den Rest seines Lebens gut ohne diese Hinterntätschler auskommen konnte.) Belinda begann, an dem Stromkabel zu kauen.
[ Menü ]
Der Schwanenvater machte kein Geheimnis daraus, daß er für einige Jahre hatte ins Zuchthaus wechseln müssen, seine Schuld
war erwiesen gewesen, und er lebte unter lauter Unschuldigen in seiner Zelle wie in allen Trakten, und auf Nachfrage zerstreute
er jeden Verdacht und sagte: Ich habe versucht, einen Mann aufzuschlitzen, er hat sich gewehrt und mir die Nase und zwei Rippen
und noch einen kleinen Knochen zertrümmert, deshalb hat man mich nicht wegen kaltblütiger Mordpläne drangekriegt. Er verriet
dies Geheimnis, nein falsch, er sprach zu den neugierigen Leuten von der kurzen Unterbrechung ohne große Folgen für einen
Junggesellen wie ihn, und diese Leute taten so, als hätte er Vertrauen zu ihnen gefaßt, sie nannten ihn hinter seinem Rücken
›den negativen Hasan Bekir‹. Er war nicht daran gewöhnt, mit Vor- und Zunamen angeredet zu werden, doch es hatte sich nun
einmal eingebürgert, und was sollte er sie darauf hinweisen, daß er den Schwänen auch keine Familiennamen gab, Schwan eins
bis Schwan neun schwammen
Weitere Kostenlose Bücher