Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
er für anbetungswürdig hielt, der Hausmeister empfand also im Herzen eine Vatersorge weniger, und doch … was konnte
     er von einem heranwachsenden Mann halten, der von den Pfützen schwärmte, in denen sich seine Schuhsohlen spiegelten? Die Pfützen
     auf den Gehwegen nach dem Regenfall. Zum Gemensch gehörten seiner Meinung nach nicht die flüsternden Vatersöhnchen, denn tatsächlich
     schwärmte der Junge im falschen Ton von den falschen Dingen. Er und diese Dienerin des Hauses und vielleicht auch der ihn
     begaffende junge Herr auf dem Balkon, sie verhielten sich wie die Hündin, der außerihm keiner zu nahe kommen durfte, seine Frau Gülseren hatte das Knurren nicht abgeschreckt, und nun erzählte sie den Hausmeistergattinnen,
     wie furchtbar es war, wenn ein Hund aus nächster Nähe einem ins Gesicht bellte. Er drehte sich um und schaute hoch – weg.
    Mein Vater steckte die Lesebrille ohne Bügel auf die Nasenspitze und musterte das Foto, auf dem Aneschka im Dreiviertelprofil
     zu sehen war, ich sagte, daß ich sie zur Ballkleidprobe begleitet hatte, sie entschied sich für eine Robe in Rosa, und während
     der Anprobe war ich mit ihrem Vater in einen Streit geraten über die Farbe des Abendhimmels: Ultramarin hell oder Cölinblau
     dunkel? Ich wußte es nicht wirklich und mußte mich aber vom Stoffrascheln in der Kabine ablenken. Es ging unentschieden aus,
     Aneschka trat plötzlich in einem stierblutroten Ballkleid heraus und bat mich leise darum, eine Flasche Wasser für sie zu
     besorgen. Und, hast du ihre Bitte erfüllt? sagte meine Mutter. Ja, sagte ich. Dann betrachtete meine Mutter das Foto, und
     ehe sie mit mir wegen eines vermeintlichen Fehlverhaltens schimpfen konnte, klingelte das Telefon. Sie stand sofort auf, drückte
     den Telefonhörer ans Ohr, meldete sich mit ihrem Mädchennamen, sie lauschte einige Minuten und legte auf. Dein Onkel bittet
     uns alle nicht um Cola gegen den Durst, er bittet uns um das Unmögliche, er will sich mit der ganzen Sippe treffen, er spendiert
     jedem Familienmitglied ein Menü mit drei Gängen, und spätestens beim Nachtisch werden wir fröhliche Lieder singen, so ungefähr
     stellt er sich das vor.
    In der drauffolgenden Stille dachte ein jeder von uns wohl über Rückzugsmöglichkeiten nach, und ich erinnerte mich an das
     Kratzen im Hintergrund, als mein Onkel am Telefon um Worte rang, mit denen er den Neffen auf eine schöne Wendung des Schicksals
     einstimmen wollte: Seine Frau – meine unmögliche Tante – hatte neben ihrem Mann gestanden und drohend am Stoff seines Hemdes
     oder Pullovers gekratzt.Man kannte sie aus früheren Tagen, und ihre Lust an Drohgebärden war bekannt. Vielleicht hatte sie ihn auf die Idee gebracht,
     das Gebetbuch meiner Großmutter ins Spiel zu bringen, vielleicht plante sie mit dem Einverständnis ihres Mannes einen Eklat.
     Wir berieten über einen Gegenschlag, vielmehr hörte ich zu, und meine Eltern sprachen über die Tage nach dem letzten großen
     Eklat: Meine unmögliche Tante hatte das Gerücht gestreut, daß sie bei einem Höflichkeitsbesuch von ›einem prominenten Familienmitglied‹
     am Kreuzbein getätschelt worden war, in der Küche am Spülbecken. Sie hatte dem männlichen Verwandten den Rücken gekehrt, und
     dieser hätte sie beim Vorbeigehen dort berührt, wo der Rücken in den verlängerten Rücken übergeht. Entsprach dieser Übergriff
     den Tatsachen, oder versuchte sie sich in der Kunst der Rufschädigung? Jedenfalls gerieten die Tschetschenenmänner darüber
     in Zorn, und meinem Onkel blieb nichts anderes übrig, als seine Frau in Schutz zu nehmen. Diese Zeit hieß die Zeit des Gleichgewichts
     der Unruhe, auf beiden Seiten herrschte ein Unfriede, meiner Mutter, meinen Tanten und meinen Kusinen gingen sehr bald die
     frommen Sprüche aus. Jetzt aber massierte sie Haifischlebertran in die Haut am Handgelenk, dort hatte sich wegen Pigmentmangel
     ein weißer Fleck gebildet, gegen diese Vitiligoflecken war meine Mutter machtlos. Sie befolgte dennoch den Rat ihrer Putzfrau,
     die sie mit Fischöl-gefüllten Flakons belieferte. Sie wird im Kopf meines Bruders sitzen, wenn wir uns mit ihm treffen, sagte
     sie und hielt ihre glänzenden Handgelenke zum besseren Trocknen hoch, sie wird ihn später verhören und ausquetschen, bei ihr
     zu Hause, erst springt sie natürlich aus seinem Schädel … Gegen die Müdigkeit konnte ich nicht mehr ankämpfen, und meine Mutter
     legte mir einen gebügelten Frotteepyjama

Weitere Kostenlose Bücher