Hinterland
er für anbetungswürdig hielt, der Hausmeister empfand also im Herzen eine Vatersorge weniger, und doch … was konnte
er von einem heranwachsenden Mann halten, der von den Pfützen schwärmte, in denen sich seine Schuhsohlen spiegelten? Die Pfützen
auf den Gehwegen nach dem Regenfall. Zum Gemensch gehörten seiner Meinung nach nicht die flüsternden Vatersöhnchen, denn tatsächlich
schwärmte der Junge im falschen Ton von den falschen Dingen. Er und diese Dienerin des Hauses und vielleicht auch der ihn
begaffende junge Herr auf dem Balkon, sie verhielten sich wie die Hündin, der außerihm keiner zu nahe kommen durfte, seine Frau Gülseren hatte das Knurren nicht abgeschreckt, und nun erzählte sie den Hausmeistergattinnen,
wie furchtbar es war, wenn ein Hund aus nächster Nähe einem ins Gesicht bellte. Er drehte sich um und schaute hoch – weg.
Mein Vater steckte die Lesebrille ohne Bügel auf die Nasenspitze und musterte das Foto, auf dem Aneschka im Dreiviertelprofil
zu sehen war, ich sagte, daß ich sie zur Ballkleidprobe begleitet hatte, sie entschied sich für eine Robe in Rosa, und während
der Anprobe war ich mit ihrem Vater in einen Streit geraten über die Farbe des Abendhimmels: Ultramarin hell oder Cölinblau
dunkel? Ich wußte es nicht wirklich und mußte mich aber vom Stoffrascheln in der Kabine ablenken. Es ging unentschieden aus,
Aneschka trat plötzlich in einem stierblutroten Ballkleid heraus und bat mich leise darum, eine Flasche Wasser für sie zu
besorgen. Und, hast du ihre Bitte erfüllt? sagte meine Mutter. Ja, sagte ich. Dann betrachtete meine Mutter das Foto, und
ehe sie mit mir wegen eines vermeintlichen Fehlverhaltens schimpfen konnte, klingelte das Telefon. Sie stand sofort auf, drückte
den Telefonhörer ans Ohr, meldete sich mit ihrem Mädchennamen, sie lauschte einige Minuten und legte auf. Dein Onkel bittet
uns alle nicht um Cola gegen den Durst, er bittet uns um das Unmögliche, er will sich mit der ganzen Sippe treffen, er spendiert
jedem Familienmitglied ein Menü mit drei Gängen, und spätestens beim Nachtisch werden wir fröhliche Lieder singen, so ungefähr
stellt er sich das vor.
In der drauffolgenden Stille dachte ein jeder von uns wohl über Rückzugsmöglichkeiten nach, und ich erinnerte mich an das
Kratzen im Hintergrund, als mein Onkel am Telefon um Worte rang, mit denen er den Neffen auf eine schöne Wendung des Schicksals
einstimmen wollte: Seine Frau – meine unmögliche Tante – hatte neben ihrem Mann gestanden und drohend am Stoff seines Hemdes
oder Pullovers gekratzt.Man kannte sie aus früheren Tagen, und ihre Lust an Drohgebärden war bekannt. Vielleicht hatte sie ihn auf die Idee gebracht,
das Gebetbuch meiner Großmutter ins Spiel zu bringen, vielleicht plante sie mit dem Einverständnis ihres Mannes einen Eklat.
Wir berieten über einen Gegenschlag, vielmehr hörte ich zu, und meine Eltern sprachen über die Tage nach dem letzten großen
Eklat: Meine unmögliche Tante hatte das Gerücht gestreut, daß sie bei einem Höflichkeitsbesuch von ›einem prominenten Familienmitglied‹
am Kreuzbein getätschelt worden war, in der Küche am Spülbecken. Sie hatte dem männlichen Verwandten den Rücken gekehrt, und
dieser hätte sie beim Vorbeigehen dort berührt, wo der Rücken in den verlängerten Rücken übergeht. Entsprach dieser Übergriff
den Tatsachen, oder versuchte sie sich in der Kunst der Rufschädigung? Jedenfalls gerieten die Tschetschenenmänner darüber
in Zorn, und meinem Onkel blieb nichts anderes übrig, als seine Frau in Schutz zu nehmen. Diese Zeit hieß die Zeit des Gleichgewichts
der Unruhe, auf beiden Seiten herrschte ein Unfriede, meiner Mutter, meinen Tanten und meinen Kusinen gingen sehr bald die
frommen Sprüche aus. Jetzt aber massierte sie Haifischlebertran in die Haut am Handgelenk, dort hatte sich wegen Pigmentmangel
ein weißer Fleck gebildet, gegen diese Vitiligoflecken war meine Mutter machtlos. Sie befolgte dennoch den Rat ihrer Putzfrau,
die sie mit Fischöl-gefüllten Flakons belieferte. Sie wird im Kopf meines Bruders sitzen, wenn wir uns mit ihm treffen, sagte
sie und hielt ihre glänzenden Handgelenke zum besseren Trocknen hoch, sie wird ihn später verhören und ausquetschen, bei ihr
zu Hause, erst springt sie natürlich aus seinem Schädel … Gegen die Müdigkeit konnte ich nicht mehr ankämpfen, und meine Mutter
legte mir einen gebügelten Frotteepyjama
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