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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Zeigefinger zu Knäueln drehen und den Vögeln
     vor die Schnäbel werfen: Hasan Bekir würde sie mit den Wächtern zusammen trotzdem aufspüren und sie davonjagen. Der Sommertrost
     bestand darin, daß man an frischen Minzblättern rieb, und wenn man … wenn Hasan Bekir den Geruch tief durch die Nase einatmete,
     löste sich der Pfropfen in seiner Stirnhöhle auf, und dann glaubte er für einen schönen Nachmittag lang an die Verheißungen
     in seinem Tageshoroskop.
    Wieso haben Sie vorhin geschrien? sagte der Mann mit einem leichten Akzent. Ich habe nicht geschrien, sagte Hasan Bekir, ich
     habe nur eine böse Dame zurechtgewiesen, in dieser Gegend trifft man sie oft, gepflegte Männer, gepflegte Frauen, sie hoffen
     auf einen Staatsstreich, diese Regimetreuen, sie hoffen, daß sich andere Leute die Hände schmutzig machen, und dann stehen
     sie am Straßenrand und schwenken Fähnchen. Sie lieben vaterländische Paraden. Ich bin ein Patriot, im Zuchthaus wird man angesteckt
     mit Vaterlandsliebe, und genau das ist mir auch passiert. Als ich rauskam, habe ich viele Leute offen darüber sprechen hören,
     daß dieser und jener ein gekaufter Hund wäre. Die böse Dame hat Bigümsultan beleidigt. Was hättest du an meiner Stelle getan?
     Ihr Regime bejubelt, sagte der Mann ernst, und da lachte Bigümsultan los, die Hündin erschrak derart, daß sie mit einem Satz
     ins Wasser sprang, ein Pfiff ließ sie aber wieder zurückspringen. Es waren der Zerstreuungen zu viele, Hasan Bekir wandte
     sich wortlos ab, der nächste Staatsstreich würde kommen oder nicht, der nächste Ärger im Park würde nicht so lange auf sich
     warten lassen, er griff blind nach dem Putzstock undschritt in Richtung der modernen Plastik, von der es hieß, sie würde auch bei längerem Betrachten den Sommerkummer nicht
     vertreiben.

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    Wir sind die Kinder und die Enkel jener, die in dem abgekoppelten Viehwaggon überlebten, wir sind die Frucht derer, die am
     Endbahnhof der Deportation nicht ankamen: So stellten sich die Tschetschenen meiner Sippe vor, und sie waren in diesen Momenten,
     da der Russenhaß ihr Herz verschwärzte, da sie keinem Russen die Hand zur Versöhnung ausstrecken wollten, wirklich großartig.
     Ich hätte es keinem Humanisten aus meiner Straße erklären können, ein Vertriebener galt als griesgrämiger Idiot der Geschichte,
     er begriff nicht, daß es genehm war, im Namen eines Volkes ein Völkchen zu strafen. Die Sippe zuerst, die Sippe voran – das
     brüllten die Männer, besoffen und voller Hoffnung, nicht etwa, um wie die Rotgardisten das Land mit Krieg zu überziehen, sondern
     den Linken ihres Viertels zu zeigen: Eine Wagenladung Verbannter, zerschunden und zerfressen, hat es geschafft. Sie sind geflohen,
     sie haben durchgehalten, sie sind in einem anderen Land als dem ihren bis ins dritte Glied heimisch geworden. Natürlich tranken
     sich die Männer, die Alten wie die Jungen, von einer Betäubung in die nächste, es klang alles fürchterlich falsch, und wann
     immer sie im Chor die Russen zum Teufel wünschten, hielt ich mir die Ohren zu. Und sie machten sich einen Spaß daraus, Kriegerlieder
     zu grölen, Lieder über das scharfe Schwert, das den Sowjet in zwei Teile spaltet, Lieder über Tschetschenen, die in geordneten
     Schlachtenreihen vorrücken. Es würde vom dritten zum vierten Glied übergehen, daß man vom Sowjet sprach, wenn man den Russen
     meinte.
     
    Selten folgten meine Onkel einer Einladung, es war ihre Sache nicht, im Wohnzimmer zu sitzen und darauf zu achten, daß man
     beim Kaffeetrinken nicht kleckerte, nur die Dekadenten hielten den Unterteller unter die Tasse – vom dekadenten Gemensch sprachen
     sie dagegen oft, am besten im Saal eines Volkslokals, sie musterten die Kellner und teilten die Glattrasierten in Linke und
     Rechte und in solche, die sich Schritt für Schritt auf die Rückenmarkserlösung hinarbeiteten. War das nicht verrückt, was
     sollte das heißen? Wer den Kopf gebrauchte, erkannte. Wer das Herz gebrauchte, ersehnte. Wer die Organe für wertlos befand
     und die Seele ein unsichtbares Flugobjekt nach dem Tode nannte, erkämpfte sich das Glück, es hatte seinen Sitz im unteren
     Teil des Rückens. Dort wurde auch eine unmögliche Tante gestreichelt, an einer wichtigen Stelle an der Hinterseite, und vielleicht
     hatte der Schreck die Nerven befallen, war die Angst übermächtig geworden, die Angst, für immer beschädigt worden zu sein.
     Sie erschien nicht zum

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