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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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haben, aber er denkt mindestens einmal in
     der Woche an sie. Die Turkmenin hörte ihm zu, und am Ende seiner Geschichte nickte sie, und beim Sprechen hielt sie die flache
     Hand vor den Mund, die Lichtreflexe an ihren Goldzähnen beschämten sie zutiefst. Der Deutsche wurde abgelenkt von einem Tüllvorhang,
     der sich aus einem Fenster einer Parterrewohnung herausbauschte, dann runzelte er die Stirn wegen der falschen Töne, die aus
     dieser Wohnung drangen, die Tochter des Hauses übte auf ihrer Flöte, Bigümsultan hätte ihm verraten können, daß sie davon
     träumte, ihre von Natur aus eingefallenen Wangen aufspritzen zu lassen und ihre Flöte entzweizubrechen. Die Goldbezahnte mußte
     ihn wohl gebeten haben, das Buch noch einmal aufzuschlagen, denn nun betrachteten sie Kopf an Kopf ein großes Bild, vom Balkon
     aus konnte Bigümsultan gerade noch erkennen, daß es sich um eine ganzseitige Illustration handelte, und da verstand sie. Er
     hatte auch sie um eine Deutung dieses Bildes gebeten. Kleine Körper mit weißen langen Pappschachteln auf den Köpfen. Sie zwinkerten
     dem Betrachter zu. Im Hintergrund flogen bis fast auf die Minenspitze gespitzte Bleistifte in der Luft und schrieben und zeichneten
     arabische Buchstaben. Die langen Pappschachteln sind symbolische Grabsteine, hatte sie ihm gesagt, die Mystiker tragen sie
     auf den Köpfen, um sich als vom Tod Gezeichnete zu erkennen zu geben, und weil das Kopfgewicht unerträglich schwer wird, schrumpft
     der Körper, das ist meine Deutung. Der Turkmenin fiel es schwer, ernst zu bleiben, und als sie sich nicht länger beherrschen
     konnte, lachte sie schallend und zog mit dem kläffenden Hündchen weiter, zurückblieben der Deutsche und die Hündin, die gehofft hatten weiterzuschnüffeln. Auch sie verlor das Interesse an ihm, sie schnippte
     die brennende Zigarette über die Brüstung, prüfte den Sitz ihrer Kopfbedeckung und ging hinein.
    Frau Gül hatte sich nicht von der Stelle bewegt, sie sagte: Meine Kraft schwindet von Tag zu Tag. Du wirst allein den Teppich
     schrubben müssen – wirst du erfolgreich sein? Wo schnappte die Dame nur diese Worte auf? Unter ihrer Anleitung diente und
     bediente sie, und sie hatte bislang nur zwei Male widersprechen müssen: Es ging niemanden etwas an, daß sie ihre Haare zu
     Zöpfen flocht und bedeckte. Wer von einem Fetzen Stoff provoziert wurde, sollte seine Phobie behandeln lassen. Es ging auch
     nur sie etwas an, wenn sie ältere Männer … netter fand als jüngere. Sie staubte die Bilderrahmen ab, dann die Standflächen
     der Kommoden und Schränke, sie rieb mit einem feuchten Tuch über die Rauhfasertapeten der Wohnzimmerwände, und als die Dame
     die Sonnenbrille aufsetzte, wußte sie, sie würde ihren Geliebten zu einem Nachmittagsrendezvous aufsuchen. Sie sagte: Wenn
     ich wiederkomme, vielleicht am Abend, ist hoffentlich der Teppich sauber. Sie schlug die Tür hinter sich etwas fester zu,
     als es nötig war, vielleicht lehrte es das impertinente Persönchen, daß Maßhalten dem Mundhalten meistens gleichkam. (In den
     Vierteln der Reichen und Prächtigen herrscht die Klassendisziplin, so wie in anderen Weltgegenden auch. Ein Persönchen ist
     ein Mensch, von dem man glaubt, er verdiente es nicht, an der Wange getätschelt zu werden. Früher hat man die Haare der adoptierten
     Dienstmädchen barbarisch verschnitten, daß Außenstehende sie als der Familie nicht zugehörig erkennen konnten. Heute beschenkt
     man sie mit ausgesonderten unmodischen Kleidern.)
    In diesem Land nannte man die Ehefrau eines verstorbenen Mannes in gehobener Position nicht einfach Witwe, man bemerkte die
     komplett epilierten Augenbrauen und die mitKonturstift gemalten schwarzen Bögen über den Lidern und erfand folgende Geschichte: Frau Gül lag auf einer Liege am Rande
     des kleinen Schwimmbeckens im Freien, ihr Wohlbehagen verdankte sie zwei Sommercocktails und einer langen Nacht mit ihrem
     Liebhaber. Wer dieser Liebhaber war, ist von geringerem Interesse, zumal wir bemerken müssen, daß sie noch ihren Ehering trug.
     Sie schlief ein. Der Baum, keine zwei Liegen weiter, war von Blattkäfern befallen. Die frisch geschlüpften Käferchen flogen,
     angelockt von der Sonnencreme, in ihre Richtung, sie landeten auf ihren Augenbrauen und fraßen sie auf. Seither malt sich
     Frau Gül schwarze Bögen ins Gesicht … Nichts davon entsprach der Wahrheit, nichts davon konnte Frau Gül belustigen – sie hatte
     große Anstrengungen

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