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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Zimmers über der Markise
     der Bar. Noch einmal drehte sie sich um ihre Achse, doch da war niemand, den sie kannte oder erkannte. Ein Mädchen mit Gitarrenkasten
     im Dämmerlicht, das hübsche Kind, das es kaum erwarten konnte, seine Diätpläne zu vergessen. Hier in Berlin wurde Aneschka
     anders.
    Nach einer Viertelstunde trat ein Kellner hinaus und sagte, ihre Freundin hätte soeben angerufen und um Geduld wegen ihrer
     Verspätung gebeten, sie sollte ihr Mobiltelefon einschalten. Sie saß unter der Markise, tote Fruchtfliegen schwammen in ihrem
     Wein, und unter ihren Schuhen fühlte sie die losen Pflastersteine. Eine Stille in der Kastanienallee, eine Stille zwischen
     sieben und Viertel vor neun Uhr abends. So still, daß sie sich an den Knien kratzte. Und weil dabei ihre Fingernägel über
     den Schorf auf der kleinen Wunde schabten, versehentlich, mußte sie sich vor Schmerz aufrichten, ihr Mantel glitt von der
     Armlehne auf die nassen Filter, sie beugte sich kurz hinunter, da aber sah sie einen gelben Bestattungswagen langsam in einer
     Parklücke verschwinden. Ihre Brieffreundin drehte im Gehen Locken in ihr Haar, und kaum hatte sie sie umarmt, einen Tee ohne
     Zucker bestellt, sprach sie von durchsichtig wirkenden Zahnspitzen, man gab dem Mangel ein Gesicht, und bei Calciummangel
     verkümmerten im roten Mund die weißen Zähne. Antlitzerkennung nannte sie es, Aneschka betupfte nur mit der Fingerkuppe den
     Wein, schüttelte die Fruchtfliege vom Finger und klopfte heimlich einen Takt auf den Henkel des Gitarrenkastens. Sie trocknete
     langsam, das feuchte Kleid klebte an genau zwei Stellen ihres Rückens, und deshalb verspürte sie in dem Moment, da die über
     das Lesen in Gesichtern sprechende Freundin plötzlich einen Hustenanfall bekam, eine große Lust, über die letzten Tage ihres
     Lebens zu erzählen. Er hat mich nicht verlassen, ich habe ihn nicht verlassen, du weißt noch, oder, der braunäugige Deutsche,
     den wir Tschechen nach einer Ameise benannt haben, ich rufe ihn nicht an, er ruft auch nicht an, vielleicht ist das Kastanienliebe.
     Das erklärt sich so: Ich bin in der Kastanienallee, hier wachsen rechts und links neben der Straße Kastanienbäume, und er
     ist gerade in einer Stadt, in der man geröstete Kastanien ißt, der Händler packt sie in eine braune Zipfelpapiertüte, und
     Ferda hat mir einmal gezeigt, wie mannur mit einer Hand, mit dem Spiel der Innenfläche der Faust, die Schale von der Frucht löst …
    Sie brach mittendrin ab, eilte nach Budapest , rannte aus Budapest wieder hinaus, und half Helen beim Trinken, der Kellner
     stand im Hintergrund und trocknete die Hände an der Schürze ab. Alles um Aneschka herum verschmolz mit dem gelbstichigen Dunkel
     hinter ihr, in der Bar hatten sich die Spätaufsteher versammelt, und sie drückten Nagelkerben in die Bierdeckel, weil sie
     sich aus den dunklen Gedanken rausgeschlafen hatten, weil ihnen nichts Gescheites einfiel: zu den zerkratzten Wänden in Dunkelgelb,
     zum Mohnrot der Schneiderweste, die die halb beschädigte Barbesitzerin heute trug. Halb krümmte sie sich, halb hielt sie sich
     aufrecht. Von ihrem Stehplatz vom äußeren Ende des Tresens aus konnte sie sie sehen, die Tochter des Fotografen, sie unterhielt
     sich mit einem jungen Ding, das halb deutsch halb undeutsch aussah. Wahrscheinlich kannten sie einander nicht sehr lange,
     wahrscheinlich traf sie keine Schuld, daß Helen fast an einem Schluck erstickte. Sie beide machten auf Cora einen besiegten
     Eindruck, sie war umgeben von den Besiegten, die man lange ärgern mußte, bis man ihnen aus der Tiefe des Rachens einen Grollaut
     entlockte. An ihren Armbeugen spannte sich glatte Haut, sie waren stolz, daß sie keine Einstichstellen befühlten.
    Gut. Was sollte sie also Niklas berichten? Deine Tochter trifft sich mit fremden Frauen. Deine Tochter spuckt mir auf den
     Terrassenboden, sie ist entschuldigt, weil sie sich an meinem heißen Tee verschluckt hat. Deine Tochter, das sehe ich auf
     den ersten Blick, schaut sich unauffällig nach Männern um, ich gebe ihr keine zwei Monate, und sie hat einen neuen Freund.
     Nein, ein Spanier ist mir nicht aufgefallen, vielleicht versteckt er sich aber so gut, daß ich ihn nicht entdecken kann. Und
     wenn er ihr die Reifen zerstechen sollte, erkläre ich mich für nicht verantwortlich … Sie humpelte um den Tresen, vernahm
     den Gruß eines Besiegten und reagierteaber nicht darauf, sie zupfte am Saum der Weste und zog sie

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