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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Sippentreffen, mein Onkel aber legte über die Lehne des Stuhls neben sich sein Jackett, wie um anzuzeigen,
     daß er als ganzer Mann und halber Mensch teilnahm. Die Lücke in der Tischordnung lud zu Deutungen ein, und weil man in seiner
     Gegenwart auch am anderen Ende der Tafel unmöglich tuscheln konnte, erhoben sich immer zwei Frauen gleichzeitig, lachten falsch
     ob des Zufalls, daß der Blasendruck sie im selben Moment aufspringen ließ.
    Meine Mutter und meine Tanten trugen Schuhe mit flachen Absätzen, meine Kusinen streiften die silberschwarzen Stöckelschuhe
     unter dem Tisch ab und rieben die Ferse an der Wade. Hier waren wir also fast alle versammelt, im Restaurant des Pfannenmeisters
     Redschep, auf Posterformat vergrößerte Kopien von Zeitungsartikeln hingen an der Ansichtswand, an einer anderen Wand entdeckte
     ich Farbfotos von Meister Redschep, wie er, ganz in Weiß gekleidet, an gedeckten Tafeln stand, Rosen an schöne prominente
     Sängerinnen verteilte,neben wildbärtigen Intellektuellen posierte, die Hände seltsam verkrümmte und an die Hüften preßte. Er trug ein Krankenpflegerhemd,
     das brachte mich dazu, unsinnige Gedanken anzustellen, ein Gast, so lästig er war, mußte geehrt werden, und vielleicht konnte
     der Meister die Kranken besänftigen, indem er ihren Hunger stillte. Da aber stieß mich mein Onkel zu meiner Rechten an und
     wies mich auf die glänzende Stirn des Intellektuellen auf dem Foto hin. Der Mann glänzt wegen der Urlaubsbräune, sagte er,
     wenn es um dies Land geht, ist er stets ungnädig, der Herr verdient in einem Monat soviel wie hundert Schuhputzer in einem
     Jahr, und weil das Volk, dessen Macht er fürchtet, falsch wählt, muß er immer wieder extravagante Erholungsorte aufsuchen.
     Dort trifft er auf deutsche Lehrer und Auslandstürken, und sie können, bei Wein und Popmusik, nach Herzenslust schimpfen …
    Meine Kusinen verdrehten nicht die Augen, auch sie hatten nur Verachtung übrig für die Rückenmarksunerlösten, sie würden überhaupt
     dem Mann nicht widersprechen, den sie seltener sahen als mich, den Schuhmacher. Und mein Blick ging über die angeheirateten
     Sippenfremden, die Schwiegersöhne, wie fühlten sie sich wohl in Gesellschaft der Väter ihrer Frauen, mußten sie nach der Zusammenkunft
     zu Hause das brennende starre Gesicht mit kaltem Wasser kühlen? Von einem wußte ich, daß er jeden Abend ein Heizkissen in
     den Nacken legte, und er hörte seine Frau im Nebenzimmer auf und ab gehen, es dauerte nie lange, und sie stürzte dann ins
     Bad, füllte einen Eimer halb voll mit Desinfektionsmittel, umschloß einen Schwamm mit beiden Händen und tauchte die Mädchenfäuste
     in die Lauge. Einen größeren Genuß verschaffte ihr nicht einmal das Liebesspiel. Was konnte er tun, da sie nach diesem Hygieneritus
     überschwenglich wurde und ihn zum heftigen Küssen zwang? Das Lippenbluten nach jedem Kuß verstörte ihn selten, ihre roten
     Flossenhände um so mehr. Sie flüsterte ihm jetzt etwas ins Ohr, und dasie beide mich anstarrten, fragte ich, wo sie ihre Haare hatte machen lassen, und sie sagte, in einem Geschäft namens Paris
     Coiffeur, für Waschen, Schneiden, Tönen und Fönen habe sie umgerechnet neunzig Euro bezahlt. Darüber konnte man gefahrlos
     reden, sie saß ja auf ihren Händen, und wenn sie ihr Gewicht verlagerte, klingelte der Glücksbringer am goldenen Armreifen,
     der Oberkörper ihres Mannes zitterte leicht, dies kleine Schauspiel war alle fünf Minuten anzusehen.
    Die Hitze setzte uns allen zu, aber auch den Tauben draußen, sie lagen wie brütende Hennen auf den Steinplatten des Bürgersteigs
     und ließen sich von klatschenden Kindern nicht verscheuchen. Mein jüngerer Onkel hatte auf Drängen seiner neuen Frau seinen
     Oberlippenbart rasiert, er fühlte sich sichtlich unwohl, plötzlich strahlte er übers ganze Gesicht und erklärte, daß wir das
     Andenken des kürzlich verstorbenen Ältesten in Ehren halten mußten, einen Trinkspruch wollte er ausbringen … Und so weiter.
     Mein Onkel Bener machte keine Anstalten, zum Glas zu greifen, wir tranken hastig einen Schluck und stellten unsere Gläser
     wieder vor uns auf den Tisch, und wie auf Zuruf schlüpften die Männer aus ihren Jacketts und blickten verstohlen zum freien
     Stuhl. Ich erschrak, als ich einen über den Tisch schwebenden Arm erblickte, das Armende erblühte, und ich sah ein Porzellantäßchen
     ohne Henkel auf dem Handteller stehen. Ich ergriff es, nippte an

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