Hinterland
unternommen, die Quelle dieses bösen Gerüchts auszumachen, und war aber in ein Dickicht aus Käferwahrheiten
geraten. So nannte sie die Lügen aus dem Munde von Persönchen, von großbusigen Bauerntöchtern, sie schworen auf das Verkehrte
und bespien das Gerade.
Frau Gül ging an der Glücksbringerverkäuferin vorbei, sie ließ sich auch nicht von dem fliegenden Händler aufhalten, der seinen
Stand als Feuerzeugwerkstatt pries, sie paßte eine Lücke zwischen den rasenden Autos ab und überquerte die Straße, sie stieß
kurz hintereinander mit einem Alten und einer stark parfümierten Frau zusammen und eilte aber weiter, bis sie endlich an der
Parkbank ankam: Natürlich entdeckte sie ihn, bevor er sie bemerkte, und weil sie die Heimlichtuerei zur Kunst erhoben hatten,
blieb er entgegen seiner Gewohnheit sitzen und bestaunte sie, bestaunte ihr Kleid, bestaunte ihren Gang, bestaunte ihr strenges
schönes Gesicht. Die Brottüte zwischen seinen Füßen auf dem Boden fiel ihr auf – wollte er etwa die Schwäne füttern? Was macht
der Kampf gegen meine Klasse? sagte sie, hast du von dem Bombenanschlag in Istanbul gehört? Habe ich, sagte er, deine Putzfrau
hat mich dasselbe gefragt, und ich habe ihr geantwortet, daß ich mitden Terroranarchisten nichts zu tun habe, Establishment ist gleich Establishment, links ist nicht gleich links. Ihr hattet
gestern einen großen Auftritt, sagte sie, du hast doch hoffentlich nichts abbekommen? Die Polizisten schwangen ihre Knüppel,
und wir haben wie die Idioten gebrüllt, sagte er, du weißt schon: Wir haben nichts zu verlieren außer unseren Ketten, solche
Dinge eben, und ich verlor schon vor der offiziellen Auflösung der Demonstration die Lust, ich bin im Park spazierengegangen.
Was hältst du von dem Schwanenvater? Nichts, sagte sie, sollte ich etwa anfangen, ihn wertzuschätzen? Er bewacht die Schwäne,
sagte er, das ist doch schon mal was. Außerdem hat er zwei Männer erwischt, die seine Vögel geärgert haben. Er saß im Gefängnis.
Ach ja, sagte sie, dann interessiert er mich nicht. Was wollen wir tun? … Was sollten sie tun? Sie hatten abgemacht, mit dem
Taxi zu seiner Wohnung zu fahren, er durfte in einer großen Wohnung in der Salonikistraße im Stadtzentrum wohnen, da sein
linksgestrickter Professor ihm Sympathien entgegenbrachte und die Miete erließ, genaugenommen war der Revolutionär des Professors
einzige Verbindung zu der Szene der Ungesetzlichen, und das ließ er sich etwas kosten.
Gül haßte die Nachstellung der freien Natur, sie mochte keine künstlichen Teiche und keine bettelnden Schwäne, und es paßte,
daß man einen ehemaligen Verbrecher als Aufseher eingestellt hatte. Doch sie schwieg, ihr Liebhaber sympathisierte mit den
Persönchen, und was sie für Gesindel hielt, nannte er ›die zornigen Subjekte des Zerfalls‹. Das Teichwasser war letzten Winter
abgelassen worden, und die Schwäne wurden in andere Quartiere umgesiedelt, nur für eine Woche, und in dieser Zeit hatte sie
ratlose Männer und Frauen mit Brottüten im Park herumirren gesehen, und ihr komischer Liebhaber wollte doch tatsächlich einen
Bürgerprotest organisieren. Dies war das Land der herumschweifenden Schwanenfütterer, der Hohelieder trällernden Stalinisten
und derperfekt geschminkten Muttermörderinnen. Und in diesem Land konnte ein Revolutionär, der die Sommersprossen im Gesicht ihrer
Putzfrau zu zählen wagte, nicht mit Bomben, aber mit Brotkrumen die Herzen der Bürger erobern. Besser als vergehen. Verglimmen.
Verrauchen. Er schlang seinen Arm um ihre Hüfte, die ob der Berührung Beglückte vergaß den Schmerz in ihren Fußballen sofort,
bald würde im Dämmerlicht Hasan Bekir Schwan zwei dabei beobachten, wie seine Füße sich in den Algen verfingen, doch er brauchte
seine Hilfe nicht, mit ein paar kräftigen Stößen schwamm er sich frei und glitt an ihm vorbei, der am Teichrand stand und
zwei Worte flüsterte: Algenhaft, traumhaft. Wer zu lange ins Wasser schaut, ins Wasser des Teichs, des Flusses, ins Wasser
des Meeres, sieht das, was unter Wasser treibt, als kiloschwere Traummasse, sie hat die Kraft geerbt, alles, was außerhalb
des Wassers lebt, zu locken, zu rufen. Wie lange stehen wir noch, wann werden wir ins Wasser fallen?
Klopften die Nachbarn über uns, weil wir den Fernseher zu laut aufgedreht hatten? Nein, sie zerstießen Knoblauchzehen auf
dem Boden ihres Wohnzimmers, und eigentlich, sprach
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