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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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meine Mutter, müßte sie sich beschweren, weil sie Belinda zum Jaulen brachten,
     die alte Frau und der alte Mann, doch der harte Terror der Muttermörderinnen hatte allen Frauen über Vierzig Angst eingejagt
     – eine gelegentlich winselnde Hündin konnte man mit Worten und getrockneten Rosinen besänftigen. Beste Herzen siegen, das
     war der Leitspruch meiner Mutter in diesen Tagen, ein bestes Herz wird die Totenstille nicht länger als zwei Wochen ertragen,
     sie ruft dich noch an, gräme dich nicht. Mein Mobiltelefon lag neben mir auf dem Sofa, und ich mußte daran denken, daß die
     alten aus der Mode gekommenen Worte, auch wenn man sie nicht benutzte, schön klangen. Ich grämte mich tatsächlich. Es lief
     Werbung für einen deutschen Staubsauger, und das einzigeWort, das nicht ins Türkische übersetzt worden war, hieß Hausgerat, man hatte den Umlaut aus Gründen der besseren Sprechbarkeit
     einfach weggelassen.
    Der Sprecher pries das herrliche Fabrikat an, und in ebendiesem Augenblick klingelte mein Telefon, ich nahm sofort das Gespräch
     an. Wie geht es dir, hier ist Altan, ich führe den Laden für Touristen, du kannst dich doch noch an mich erinnern? Ja, sagte
     ich und eilte in mein Zimmer, eine Sekunde bitte, ich stecke mir schnell eine Zigarette an. Und während ich es tat, erzählte
     mir Herr Altan, daß er das Rauchen beim Telefonieren für eine komische Sitte hielt, entweder das eine oder das andere, beides
     gleichzeitig verwirrte doch einen Mann, er riefe aber an, um … um mir die aktuellen Entwicklungen mitzuteilen, nichts und
     gleichzeitig viel hätte sich geändert. Rüschtü Bej wäre keine große Hilfe gewesen, das wüßte ich ja, und was sollte er es
     verhehlen, über das Phänomen würden sie sich, die Greise vom Turmschatten, immer noch den Kopf zerbrechen, die Löcher in der
     Dunkelheit, der leuchtende komprimierte Dunst, der Verhängnisse verhieß, ich wüßte das alles ja, käme es wieder, tauchte es
     wieder auf, es würde ihn sehr beruhigen, mich am Leben zu wissen, den Empfindsamen drohte nämlich der Verlust irgendeines
     Organs oder Körperteils, denn sie würden gedankenverloren den falschen Männern in die Arme laufen; sie würden, in unnütze
     Gedanken versunken, die Fahrzeuge in ihrem toten Winkel übersehen; sie würden im Laufe der Jahre Gewohnheiten verlernen; er,
     Altan, hätte in der Schule für Schönschrift mit dem Füller ein »sehr gut« bekommen, aber nun schriebe er in Blockbuchstaben
     schon seit mehreren Jahrzehnten, wie konnte das nur passieren?
    Ich stand am offenen Fenster, Belinda schaute mich vom Türrahmen aus kurz an und lief aber wieder zurück ins Wohnzimmer, und
     plötzlich hörte ich die Klänge des Lieds eines jungen Wachtpostens, Altan Bej drehte an der Kurbeleiner halbfingergroßen Orgel, und ich stimmte sofort die zweite Strophe an, unsere beiden Schatten sahen wie einer aus, summte
     ich, es war das Gedicht des einundzwanzigjährigen Gardefüseliers Hans Leip, der, so ging die Legende, die Vornamen von zwei
     geliebten Frauen zum Vor- und Zweitnamen einer einzigen Frau umgeschrieben hatte, ich hörte auch Altan Bej mitsummen, und
     ohne meine Aufforderung abzuwarten, drehte er weiter an der Kurbel, und ich lauschte dem Lied und schnippte die Zigarette
     aus dem offenen Fenster.
     

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    tausendgüldenkraut
    Wie bei einem Berlinbesuch Aneschkas und Ferdas ewiger Liebe Rot verschießt; wie die humpelnde Schönheit Cora einen Einbrecher auf frischer Tat erwischt und von ihm auf die Sturminsel Föhr eingeladen wird; wie die Inselfriesen, von großer Unruhe gepackt, an dem Reumütigen Zeichen der alten herrlichen Zeit erkennen
     
    Es gibt Straßenecken, an denen besonders viele Zigarettenkippen auf dem Boden liegen, die Tabakkrümel, vom Regen durchnäßt
     und von der Sonne zu kleinen Klumpen verbacken, verteilen sich über die Bodenplatten des Bürgersteigs, und wenn man unter
     der Markise der Bar › Razzia in Budapest ‹ steht und auf die zertretenen Filterstücke blickt, denkt man: Hier stehen sie besonders
     gern zusammen, die Raucher. Sie sprach diesen Gedanken leise aus.
    Da flüsterte jemand hinter ihr, nah und atemlos an ihrem rechten Ohr: Das ist hier kein Balkangrill. Es entfuhr ihr trotz
     des Schrecks kein Laut, denn ein Dauerregen hatte sie freigewaschen. Und ihr Blick streifte in der halben Umdrehung den geplatzten
     Lack am Fensterkreuz, den Schatten einer Frau dahinter, der Schatten verschmolz mit dem Dunkel des

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