Hiobs Brüder
staubtrocken. Immer noch sang das Blut in seinen Ohren. Aber er hatte sich wieder unter Kontrolle. Langsam drehte er sich zu ihr um, lehnte sich an den Stützbalken und verschränkte die Arme. »Erzähl mir von Gerschom«, bat er sie. »Was ist passiert?«
Miriam senkte den Kopf. Die Finger der Rechten zupften einen Strohhalm von der wollenen Decke, auf der sie saß, und sie wickelte ihn um den Zeigefinger der Linken. Es war lange still. Aber Alan wartete geduldig. Er war vollauf damit zufrieden, sie anzusehen, die Rundung ihrer Schulter zu betrachten, den Ansatz des Schlüsselbeins, den der Ausschnitt ihres Kleides freiließ. Hätte sie nackt und mit offenem Haar vor ihm im Stroh gelegen und ihm einladend die Schenkel geöffnet, hätte er kaum verrückter nach ihr sein können. Es stand unverändert schlimm um ihn. Aber jetzt würde er es nicht mehr tun, wusste er. Er bückte sich, hob seinen Bliaut vom Fußende auf und streifte ihn über. Eine unzureichende Brünne gegen Miriams verführerischen Liebreiz, aber besser als nichts. Und immerhin verdeckte das Gewand halbwegs, was sich in seinen Hosen abspielte.
»Er kam aus York«, begann Miriam, ohne den Blick von ihrem Strohhalm abzuwenden. »Unsere Familien kennen sich seit vielen Generationen, und die Ehe wurde vermittelt, als ich acht oder neun war. So ist es bei uns üblich.«
»Bei uns auch.«
Miriam nickte. »Gerschoms Familie handelt mit Edelsteinen, und ihre Hauptniederlassung ist in Konstantinopel. Dort sollten wir nach unserer Hochzeit hinziehen. Aber ich wollte nicht.«
»Konstantinopel …«, murmelte Alan verwundert. »Eine gefährliche Reise, nehme ich an.«
»Das war nicht der Grund, warum ich mich gesträubt habe«, stellte sie klar. »Aber es ist … so furchtbar weit fort. Von England, von Norwich, von meiner Familie und allen Menschen, die mir vertraut sind. Gerschom war ein ehrenwerter und zuverlässiger Mann, aber ich habe mich davor gefürchtet, mit ihm allein in die Fremde zu ziehen. Also … habe ich mich geweigert.«
Und das konntest du einfach so?, fragte er sich erstaunt. Muss eine jüdische Frau denn nicht tun, was ihr Gemahl befiehlt?
Sie antwortete ihm, als hätte er es laut ausgesprochen: »Unser Gesetz sagt, ein Mann muss seiner Frau nach der Hochzeit mindestens ein so gutes Leben bieten, wie sie es zuvor kannte, und er darf sie nicht zwingen, mit ihm an einen Ort zu gehen, der ihr nicht gefällt. Auf dieses Gesetz habe ich mich berufen. Mein Vater war wütend, denn er ist ein weit gereister Mann und konnte meine Furcht vor der Fremde nicht verstehen. Aber ich bin stur geblieben, und mein Onkel Ruben hat mir den Rücken gestärkt, denn er liebt England, genau wie ich. Also schön, hat Vater gesagt, dann heirate Gerschom, lass ihn allein nach Konstantinopel gehen und bleib hier, bis seine Geschäfte erledigt sind und er zurückkommt. Aber das wollte ich auch nicht …« Sie unterbrach sich, und endlich schaute sie auf. »Ich weiß, wie sich das anhört. Du musst mich für eine widerspenstige Kratzbürste halten.« Es klang mutlos.
Alan hob mit einem kleinen Lächeln die Schultern. »Es gibt Schlimmeres, nehme ich an. Warum wolltest du nicht?«
»Viele Männer sterben auf ihren Handelsreisen. Ihr Schiff kentert im Sturm, sie werden von Räubern erschlagen, was weiß ich. Viele kehren nie zurück. Wenn es aber keine Zeugen gibt, die ihren Tod mitangesehen haben, müssen ihre Frauen bis ans Ende ihrer Tage allein bleiben, weil es ja sein könnte, dass der Verschollene doch noch lebt und plötzlich wieder auftaucht. Es ist ein schreckliches Schicksal. Und weil unser Gesetz genau aus diesem Grund auch sagt, dass eine Frau ihrem Mann die Zustimmung zu einer Reise in die Ferne verweigern kann, habe ich abgelehnt. Der arme Gerschom. Er war so geduldig und verständnisvoll. Und er wollte mich immer noch, obwohl ich so … schwierig war. Er blieb viel länger hier als beabsichtigt, und darum war er in Norwich, als im November die Pocken ausbrachen.« Sie verstummte abrupt, konnte nicht weitersprechen, weil sie verbissen um Haltung rang.
Mit zwei Schritten hatte Alan sie erreicht, setzte sich neben sie und ergriff ihre Hände. »Es war nicht deine Schuld, Miriam. Sieh mich an.« Es dauerte eine Weile, aber schließlich wandte sie ihm das Gesicht zu und schaute ihm in die Augen. Die ihren schimmerten verdächtig, aber es gelang ihr, die Tränen zurückzuhalten. »Du hast Gerschom nichts Übles gewünscht, und du hattest keine Macht über
Weitere Kostenlose Bücher