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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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so schnell, wie es gekommen war, sodass er hoffte, sie habe es nicht bemerkt. Es war nicht einmal ihre Schönheit, die ihm den Atem verschlug, obwohl sie in der Tat ein sehr schönes Mädchen war. Sie trug ein eigenartiges, weit fallendes Kleid aus dunkelblauem Tuch mit weiten Ärmeln, und ein weißes, langes Tuch bedeckte Kopf und Schultern und wallte über ihren Rücken hinab, sodass nur ein Ansatz dunkler Haare in der Stirn zu sehen war. Trotz der schmucklosen Schlichtheit der Gewänder erschien sie ihm wie eine Königin mit ihrem hoch erhobenen Haupt und ihrer Ruhe, die ihm unerschütterlich vorkam. Aber vor allem war es der Ausdruck in ihren dunklen Augen. Er konnte nicht beschreiben, was er dort gesehen hatte, aber was immer es war, es brachte etwas in seinem tiefsten Innern zum Klingen. Seine Seele vielleicht.
    Und mit einem Mal überkam ihn der grausige Verdacht, dass genau diese Seele in all ihrer Hässlichkeit vor diesen Augen bloßlag. Zu hastig senkte er den Kopf, räusperte sich, suchte beinah panisch nach irgendetwas, das er sagen oder tun konnte, und trat schließlich an den Brunnen. Unendlich dankbar für die sinnvolle Beschäftigung zog er einen Eimer Wasser herauf und hielt ihn dem Jungen hin.
    Doch der Kleine schüttelte den Kopf und heulte noch ein wenig lauter.
    »Mein Bruder ist Euch dankbar für Eure Hilfe, aber wir dürfen den Brunneneimer nur zum Schöpfen verwenden, weil sonst Gefahr besteht, das Wasser zu verschmutzen«, erklärte sie.
    »Verstehe«, antwortete Losian. Er wagte nicht, sie richtig anzuschauen, sah nur kurz in ihre Richtung. »Wie heißt Euer Bruder, Madame?«
    »Moses.«
    »Mach eine Schale aus deinen Händen, Moses. Ich schütte Wasser hinein, und du wäschst dir das Gesicht. Das machen wir so lange, bis du sauber genug bist, um deiner Mutter unter die Augen zu treten.«
    »Meine Mutter ist tot«, murmelte Moses, der so wenig wagte, ihn anzuschauen, wie Losian die große Schwester.
    »Das tut mir leid«, sagte dieser nüchtern, »aber mein Angebot steht trotzdem.«
    Unsicher schaute der Junge zu seiner Schwester. Das brachte er fertig, ohne den Kopf zu heben. Erst auf ihr Nicken streckte er die zusammengelegten Hände aus, und Losian hob den Eimer.
    Es dauerte nicht lange, bis der kleine Moses präsentabel war. Auf Geheiß seiner Schwester wusch er sich schließlich gründlich die Hände, und als er Losian anschaute, waren seine Wangen vom heftigen Rubbeln apfelrot. Er schenkte seinem Retter ein erleichtertes Grinsen mit einer charmanten Zahnlücke. »Danke. Wie heißt du denn eigentlich?«
    »Losian.«
    »Das ist aber ein komischer Name.«
    »Moses …«, mahnte die Schwester.
    Doch Losian winkte ab. »Er hat recht. Würdet Ihr mir gestatten, Euch und Euren Bruder nach Hause zu begleiten, Madame? Es ist fast dunkel.«
    »Das ist nicht nötig«, wehrte sie ab. »Es ist nicht weit, und wir haben Eure Hilfe schon über Gebühr beansprucht.«
    »Keineswegs. Mir wäre wohler.«
    Sie lächelte, und Losian nahm ungläubig zur Kenntnis, dass ihm von diesem Lächeln ein klein wenig schwindelig wurde. Sie hatte einen wundervollen Mund, und die Farbe der Lippen brachte ihm den Geschmack reifer Kirschen in Erinnerung, den er vollkommen vergessen hatte, wie so vieles. Sie wies in die Richtung, aus der er gekommen war. »Also schön. Dort entlang geht es zum Haus von Josua ben Isaac. Er ist unser Vater.«
    »Dann haben wir denselben Weg, Madame«, brachte er mühsam hervor und war wenigstens für diesen einen Moment von der Güte Gottes überzeugt.
    Sie betraten das Haus nicht durch die Tür, die Losian schon kannte, sondern gelangten durch ein Tor in einen Innenhof, von welchem eine Pforte direkt in eine große Küche führte.
    Dort trafen sie auf den Herrn des Hauses, und seine Miene war sturmumwölkt. »Miriam! Wo bist du nur gewesen? Ich habe das Haus voller Gäste und finde den Herd kalt und meine Tochter verschwunden. Wie kannst du …«
    »Ich habe Moses von der Schule abgeholt, Vater«, antwortete sie, und sie sagte es mit solcher Ruhe, dass er die Unterbrechung gar nicht zu bemerken schien.
    Josua legte die Rechte vor den Mund, sah mit großen Augen von seiner Tochter zu seinem Söhnchen und murmelte zerknirscht: »Es tut mir leid, Moses.«
    »Du hast es vergessen«, erkannte der Junge mit einem Seufzer, der eher duldsam als enttäuscht klang.
    Josua raufte sich das üppige graue Haar. »Es war ein Notfall.« Er nickte zu Losian, der gleich an der Tür stand und das Gefühl

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