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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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groß. Losian verspürte nicht die geringste Neigung, sich seinen Gefährten schon wieder anzuschließen, also hatte er beschlossen, sich im Judenviertel ein wenig die Beine zu vertreten und vielleicht doch noch einen Blick auf die nahe gelegene Burg zu erhaschen.
    In den Gassen war es still, denn der Tag ging zu Ende, und vermutlich setzten auch Juden sich um diese Zeit zum Nachtmahl. Jedenfalls stiegen ihm an beinah jedem Haus verführerische und fremdländische Düfte in die Nase, und sein leerer Magen, der es seit gestern aufgegeben hatte, Krach zu schlagen, meldete sich vernehmlich zurück. Ein paar Schritte vor Losian rannten zwei kleine Jungen um die Wette zur Tür eines Hauses. Als sie gleichzeitig ans Ziel gelangten, lachten sie – übermütig und außer Atem −, bis die Tür sich öffnete und eine Frauenstimme sie in einer fremden Sprache ausschimpfte. Die gescholtenen Knirpse huschten mit gesenkten Köpfen über die Schwelle, aber Losian sah sie ein Grinsen tauschen, ehe die Tür sich schloss.
    Er ertappte sich bei einem wehmütigen Lächeln. Ihm war nicht bewusst, dass es Normalität und Geborgenheit waren, von denen diese Szene sprach, denn er hatte beide vergessen. Aber er spürte, dass es irgendetwas Gutes sein musste, und mit einem Mal erschien ihm sein Entschluss, in Josua ben Isaacs Haus zu bleiben, nicht mehr wie eine leichtsinnige Verzweiflungstat.
    Er bog nach links in eine breitere Straße, kam an einen Platz mit einem großen Bauwerk, das wie eine Kirche aussah und doch wieder nicht, als aus der Gasse am anderen Ende des Platzes ein junges Mädchen und ein Knabe gelaufen kamen, die sich an den Händen hielten. Dicht auf den Fersen folgte ihnen ein halbes Dutzend halbwüchsiger Rabauken, die das Paar mit Steinen und Dreck bewarfen und johlten, wenn sie ein Ziel trafen.
    Vor dem Brunnen auf der Platzmitte hielten die Verfolgten an, und der Junge stellte sich vor das Mädchen und breitete die Arme aus. »Lasst sie zufrieden!«, rief er auf normannisch, und man konnte hören, dass Zorn und Furcht um die Oberhand rangen. »Macht das mit mir aus, ihr Feiglinge!«
    Die Rabauken waren Angelsachsen, aber sie hatten ihn offenbar sehr gut verstanden. Sie hatten angehalten, und der Anführer schlenderte noch zwei Schritte näher. »Wen nennst du hier Feigling, Judenbalg, he?« Er warf ihm einen Pferdeapfel mitten ins Gesicht.
    Der Junge schreckte zurück und prallte hart gegen das ältere Mädchen in seinem Rücken. Der Anführer wollte sich auf ihn stürzen, als eine Hand sich wie eine Eisenschelle um seinen Arm legte und ihn zurückriss.
    »Dich«, sagte Losian. »Und allem Anschein nach hat er recht. Oder wie würdest du einen Kerl nennen, der fünf Kumpane braucht, um ein Mädchen und ein Knäblein zu drangsalieren, das nicht älter als acht sein kann, hm?«
    Der Bengel war ein hartgesottener Gassenjunge und nicht so leicht einzuschüchtern. »Älter war der kleine William auch nicht, als die Juden ihn sich geholt und abgeschlachtet und sein Blut gesoffen haben«, gab er zurück. Mit einem Ruck versuchte er, seinen Arm zu befreien, aber vergeblich.
    Losian unterdrückte ein Schaudern. Das hatte gefährliche Ähnlichkeit mit den Anschuldigungen, die King Edmund erhoben hatte. Er stieß den Jungen unsanft von sich. »Pack dich. Und wenn du weißt, was gut für dich ist, lässt du dich hier nicht noch einmal blicken.«
    Die kleine Rotte verdrückte sich, nicht ohne Losian über die Schulter finstere und herausfordernde Blicke zuzuwerfen.
    Der tapfere kleine Beschützer hatte inzwischen zu heulen begonnen, fuhr sich heftig mit beiden Händen übers Gesicht, um den Pferdemist abzuwischen, und erreichte nur, dass alles noch ein wenig besser verteilt wurde.
    Das Mädchen hatte die Hand auf seine Schulter gelegt und sprach beruhigend auf ihn ein. Sie stand kerzengerade, und Losian war beeindruckt von der Würde, die sie ausstrahlte. Er verstand sie so wenig wie die besorgte Mutter, die er eben gehört hatte, aber er fand die Worte klangvoll und die Stimme melodisch.
    Dann sah sie ihn an, und ein kleines Lächeln lauerte in ihren Mundwinkeln, obwohl der Blick der dunklen Augen ernst war, beinah kummervoll. »Habt Dank, Monseigneur.«
    Losian kannte das Wort »atemberaubend«. Aber bis zu diesem Tag war ihm seine Bedeutung nie klar gewesen. Jetzt machte sein Herz einen merkwürdigen kleinen Satz, und für einen furchtbaren Moment war es, als könne er keine Luft mehr holen. Dieses plötzliche Stocken verging

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