Hiobs Brüder
versprochen, dass er einen Blick hineinwerfen darf.«
Zögernd strich Losian mit den Fingern der Linken über den rissigen Ledereinband, schob das Buch dann behutsam beiseite und verschränkte die Finger auf der gescheuerten Tischplatte. »Meine Freunde und ich sind der Ansicht, dass wir Euch bald verlassen sollten, Josua. Ich nehme an, Eure Untersuchungen sind abgeschlossen?«
Der Jude deutete ein Schulterzucken an. »Ich könnte Euch und Eure Freunde ein Jahr lang studieren, ohne dass meine Wissbegierde auch nur annähernd gestillt wäre. Aber meine strenge Tochter hat mich ermahnt, nicht zu vergessen, dass Ihr menschliche Wesen seid, keine Studienobjekte, die Gott zu meiner Erbauung hergeführt hat.«
Losian musste lächeln, als er sich die Szene vorstellte. »Eine kluge junge Frau, Eure Tochter.«
»Das ist sie.« Josua trank einen Schluck. »Es wird höchste Zeit, dass ich einen Mann für sie finde – meine Nachbarinnen liegen mir allenthalben damit in den Ohren. Eigentlich sollte Miriam längst verheiratet sein, aber ihr Verlobter starb. Zwei Monate später starb ihre Mutter. Seither hat sie mein Haus geführt, aber in wenigen Tagen wird ihre Schwägerin hier einziehen und ihr diese Rolle abnehmen, und ich weiß nicht …« Er unterbrach sich und seufzte verstohlen. »Warum erzähle ich Euch das eigentlich? Ihr habt genug eigene Sorgen. Vergebt mir, mein Freund. Ich bin ein redseliger Mann, fürchte ich, ganz im Gegensatz zu Euch.«
Losian hob kurz die Schultern. »Da ich beinah alles vergessen habe, was ich je wusste, habe ich nicht viel zu sagen.«
Josua lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, eine Hand lose um den Becher gelegt, und betrachtete ihn eingehend. »Ich hingegen denke, dass mehr von Eurer Erinnerung da ist, als Ihr glaubt. Sie ist nur verschüttet.«
»Selbst wenn es so wäre, wie soll ich sie … ausgraben?«
»Öffnet das Buch.«
»Was?«
Josua machte eine ungeduldige, auffordernde Geste. »Na los, öffnet es. Ich möchte nur etwas versuchen.«
Zögernd zog Losian den schweren Band heran, betrachtete ihn einen Moment voller Skepsis, beinah mit Widerwillen, und schlug ihn dann irgendwo in der Mitte auf. Bräunliche Tinte auf gelben Pergamentseiten, zwei Spalten auf jeder Seite. Er ließ den Blick zur oberen linken Ecke gleiten, und mit einem Mal entwirrte sich die braune Masse der Buchstaben zu einzelnen Wörtern, und Losian murmelte: »Hörest du, Wanderer der See, was dieses Volk sagt ? Speere werden sie dir als Tribut geben …« Er blickte erschrocken auf. »Jesus … Ich kann lesen.«
Josua grinste, als sei ihm ein besonders vertracktes Gauklerkunststück gelungen. »Ihr könnt lesen«, bestätigte er, und eine Art diebisches Vergnügen lag in seiner Stimme.
»Woher wusstet Ihr das?«
»Ich wusste es natürlich nicht. Aber etwas an der Art, wie Ihr redet, vor allem denkt, ließ mich ahnen, dass Euch das geschriebene Wort nicht fremd ist. Nun schaut mich nicht so argwöhnisch an. Es ist ja nicht so, als wäre das unter Männern Eurer Klasse so ungewöhnlich.«
Losian war schockiert. »Aber wieso … Wie ist es möglich, dass ich lesen kann, obwohl ich nicht weiß, dass ich lesen kann? Das ist … vollkommen widersinnig.«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Ihr habt es bislang nur nicht entdeckt, weil Euch nirgendwo ein geschriebenes Wort begegnet ist. Aber dass Ihr die Fertigkeit des Lesens nicht vergessen habt, beweist meine Theorie.« Er hob plötzlich die Hand und legte sie auf Losians Stirn. »Es ist alles dort drin. Wir müssen nur danach graben. Es kann lange dauern, bis wir die richtige Stelle finden, wo wir graben müssen. Aber seid versichert, es gibt sie. Darum wünschte ich, Ihr bliebet noch. Für Eure Gefährten kann ich nichts tun. Doch es mangelt ihnen an nichts in meinem Haus, oder? Warum sollen sie sich nicht um Euretwillen noch ein wenig in Geduld fassen? Ihr habt wahrhaftig genug für sie getan. Jetzt können sie etwas für Euch tun.«
Losians Hände waren feucht, und sein Herz raste. Aber er zwang seine Erregung zurück, kämpfte darum, sie nicht zu zeigen, und entgegnete: »Was wird Euer Bruder sagen, wenn er heimkommt und eine Bestie in seinem Tuchlager vorfindet?«
»Ach!« Josua winkte ab. »Das lasst nur meine Sorge sein.«
»Aber Regy ist gefährlich, Josua. Für Euch, vor allem für Eure Kinder.« Losian sprach mit aller Eindringlichkeit, die er aufbringen konnte. »Er ist listig und verfügt über enorme Kräfte. Irgendwann wird es ihm
Weitere Kostenlose Bücher