Hiobs Brüder
wieder gelingen, jemanden zu verletzen. Er richtet all sein Streben darauf, die ganze, nicht unbeträchtliche Kraft seines Willens.«
»Ich weiß.« Josua schüttelte den Kopf. »Er ist jenseits aller Heilkunst, fürchte ich. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so entzückt von seiner eigenen Bosheit ist.«
»Ja. Es ist ein Jammer, dass er nicht dem Sheriff von York übergeben und hingerichtet wurde, als man ihn überführt hatte, denn die Welt wäre ein glücklicherer Ort ohne ihn. Aber das ist nun einmal nicht geschehen, und nun trage ich die Verantwortung für ihn. Und ich will nicht …«
»Ihr solltet Euch überlegen, ob Ihr nicht vielleicht mehr als das gebührliche Maß an Verantwortung schultert«, fiel Josua ihm ins Wort. »Wenn Reginald de Warennes Anwesenheit in diesem Haus Euch so beunruhigt, kann ich den Sergeanten des Sheriffs bitten, ihn oben auf der Burg zu verwahren. Wäre Euch dann wohler bei dem Gedanken, noch ein Weilchen unter meinem Dach zu bleiben?«
Losian antwortete nicht gleich. Abwesend schaute er auf die eng beschriebenen Seiten des Buches hinab, und schließlich sagte er: »Ich muss darüber nachdenken.«
Josua stand auf und legte ihm für einen winzigen Moment die Hand auf die Schulter. Losian schätzte das für gewöhnlich nicht, aber bei Josua machte es ihm eigentümlicherweise nichts aus. »Tut das«, riet der Arzt. »Für mich wird es Zeit, ich muss baden.«
»Baden ?«
Der Arzt nickte. »Heute bei Sonnenuntergang beginnt der Sabbat, und vor dem Sabbat gehen anständige Juden ins Badehaus. Bleibt nur hier und lest ein wenig. Ich denke, es wird Euch Freude machen und Eure Gedanken anregen, was keinesfalls schaden kann. Wir sprechen uns später.« Er wandte sich zur Tür, die auf die Straße hinausführte.
»Danke, Josua. Danke für alles, was Ihr für mich und meine Freunde getan habt. Was immer die Leute von Norwich über Juden sagen, ich glaube nicht, dass es viele Christen gibt, die solcher Großzügigkeit fähig wären.«
Josua hob im Hinausgehen eine Hand, um seinen Dank für Losians Worte zu bekunden. Ohne sich umzuwenden, bemerkte er: »Ihr solltet meine Selbstlosigkeit nicht überschätzen, mein junger Freund.«
Losian las weiter in dem langen Gedicht über die Schlacht von Maldon, die die Angelsachsen unter ihrem Anführer Byrhtnoth gegen die heidnischen Dänen geschlagen und verloren hatten, und je länger er las, umso größer wurde seine Erregung. Er spürte, dass ihm dieses Gedicht vertraut war. Die Namen Byrhtnoth und Maldon waren ihm nicht fremd. So wenig wie der trotzige, stolze Ton der Worte und die Form der Verse. Er kannte dieses Gedicht.
Als er das Ende der erschütternden Geschichte von Ruhmestaten und Feigheit, Heldenmut und Tod erreicht hatte, klappte er das Buch beinah hastig zu und schob es weg, als fürchte er, es könne ihn beißen. Diese Sache war ihm unheimlich. Wie war es möglich, dass ein Lied über eine längst vergessene englische Schlacht einen normannischen Kreuzfahrer berührte wie die Liebkosung einer vertrauten Hand? Und wieso zum Henker konnte er eigentlich lesen? Kein anständiger Mann von Stand konnte lesen, oder? Nur Mönche und Priester. War er etwa Priester? Nein. Natürlich nicht. Wäre er Priester, müsste er die lateinischen Worte verstehen, die King Edmund bei der Messe sprach. Er war Soldat. Das war wohl das Einzige, was er mit Gewissheit sagen konnte. Jede Erfahrung, die er seit ihrem Aufbruch von der Insel gemacht hatte, bestärkte ihn in dieser Überzeugung. Er war Soldat, so wie Byrhtnoth und Offa und Godric und all die anderen Männer in dem Gedicht. War das der Grund? Kamen sie ihm deswegen vertraut wie Brüder vor?
Er vergrub einen Moment den Kopf in den Händen, weil das ewige sinnlose Kreisen seiner Gedanken – das Josua ben Isaac mit seinem verfluchten Buch nur verschlimmert hatte – ihn in die Düsternis zu stürzen drohte.
Ehe sie ihn lähmen konnte, stand er lieber auf und ging hinauf zu der Kammer, die er immer noch bewohnte. Es war das erste Mal seit ihrer Flucht von der Insel, dass er einen Rückzugsort hatte, wo er allein sein konnte. Wahrhaftig der einzige Luxus, den die Insel geboten hatte, und er hatte ihn schmerzlich vermisst.
Als er nun zu seinem Refugium kam, musste er indessen feststellen, dass sich bereits jemand dort aufhielt: Miriam stand mit dem Rücken zur Tür, legte etwas auf der Truhe ihres Bruders ab und wandte sich um. Sie schien fast unmerklich zusammenzuzucken, als sie
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