Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
gleich ein paar Reiner mit.
Ruprecht reitet vor Hiob her, durch ein Labyrinth nachtweißer Kegel. Er enthält sich wenigstens des überheblichen Gelächters, aber angebracht wäre es schon, denn die wilde Jagd währt nur kurze Zeit. Hiob bleibt in fast hüfthohen Schneemassen stecken, während das Titanenpferd und sein Gigantenherr nicht einmal Spuren hinterlassen und im Heiligtum des Waldes aufgehen. Während Hiob sich freiwindet, stottert sein Hirn langsam wieder in Gang. Das hier bedeutet gar nichts. Ruprecht ist garantiert kein Prognosticon, der sadistische Kreuzritter ist mindestens genauso unbesiegbar wie Veidt von Holstenwall oder wie es Anton Krantz war in verwandtem Winter. Dies hier ist nicht mehr Hiobs Spiel. Hier wird mit ihm gespielt.
Er kämpft sich zurück, Bugwellen zäher Kristallmeisterwerke vor sich herschiebend, wehrt sich dagegen, sich verirrt zu haben. Viel zu weit, viel zu weit weg. Verhängnis. Der sicher geglaubte Punkt reißt sich los, trudelt ins stinkende Dunkel. Die Wette. Widders Schicksal. Sein Mädchen als Hure der High Society.
Er kann die Silhouette eines Pelzmärtels auf dem Dachfirst der Hütte sehen, als er die Hütte selbst noch kaum ausmachen kann. Wie ein buckliger Schlafwandler pirscht sich der rangtiefe Dämon zum qualmenden Schornstein hin und – springt kopfüber hinein. Ho, ho, ho – ich bin eure schöne Bescherung!
Hiob rennt, so schnell er kann, und das ist langsam wie im Albtraum, wegen des Schnees und weil jeder keuchende Atemzug bei dieser Kälte wie eine gehäufte Handvoll eisgekühlter Stecknadeln in Kehle und Brustkorb reißt. Es ist sonnenklar, was jetzt passiert, Hiob ist nur einfach viel zu weit weg, um rechtzeitig eingreifen zu können. Das Licht in den Fenstern wird doppeldeutig und unruhig. Das Fell des Pelzmärtels hat, in die Kaminflammen stürzend, Feuer gefangen, und rasend und kreischend wütet das Ungeheuer jetzt da drinnen unter den verbliebenen drei Vierteln der Familie Sarpat aus Kiel. Schade, denkt sich Hiob grimmig, war eigentlich ein netter Versuch, zur Abwechslung mal den ritterlichen Helden zu spielen. Fehlen nur noch zwei Ingredienzen zu: die Ritterlichkeit und die Heldenhaftigkeit.
Als er völlig außer sich, mit frostigem Blutgeschmack im Mund und schrillem Pfeifen in den Ohren, an der Tür ankommt, brennt das Innere der Ferienhütte schon lichterloh. Das Schreien der Kinder ist ohne Beispiel. Wahrscheinlich hatten sie den Schrank wieder vor die Tür geschoben, keiner kommt mehr raus. Jemand wummert wieder und wieder gegen die Wände. Das Jaulen des Krokodilwolfs und das schrille Wiehern von Friederike Sarpat verknoten sich ineinander, als wären beide in einer flammendlodernden Vergewaltigung begriffen.
Hin und her und hin und her schaukeln sich Hiobs Gedanken gegenseitig auf. Jetzt noch rein? Noch retten, was zu retten ist? Noch rausholen, was drin ist? Aber ist es nicht schon viel zu spät? Sind die da drinnen nicht schon viel zu verbrannt oder sonst wie verletzt, fürs Leben entstellt, verkrüppelt, zerstört? Ist es nicht viel schlimmer, das, was da jetzt noch lebt, zu retten, als ihm den letzten Schritt der Schmerzen zu ermöglichen? Aber was, wenn eines der Kinder noch völlig unversehrt ist? Was, wenn nur eines noch lebt und Rettung bedeutet, es den einzigen Überlebenden seiner Familie sein zu lassen? Was, wenn Hiob sie zwar rettet, aber hier draußen im Schnee ohne Möglichkeit, Hilfe zu rufen, keine Chance hat, die Verletzten am Leben zu erhalten? Was, wenn die Mutter lebt, die ihre Kinder brennen sah? Was? Was? Waaaaaaaaaaaaaaaas?
Hiob presst sich die Handflächen auf die Ohren, um das Brüllen und Prasseln und Aufplatzen von Fett nicht mehr hören zu müssen. Die Seekrankheit seines gewissenhaften Dilemmas zwingt ihn von den Beinen, bis er auf der Türschwelle sitzt, wie ein hospitalistischer Schimpanse vor und zurück schaukelnd, das warme Holz der Tür im Rücken, die Augen, das Licht zu Sternen verzerrt, auf den Weihnachtsbaum gerichtet, der milde höhnt, ein Zyniker, ein Pragmatist. Sieh her, ich brenne. Ist’s nicht ein Wunder, wie friedlich mich das kleidet?
Machen wir uns nichts vor, liebe Kinderlein, die ihr entgegen meinen Rat bis hierhin ausgeharrt habt, um die scheußlich wahrhaftige Mär zu hören.
Es ist Selbstmitleid, das Hiob in die Demut zwingt. Der die Kinderzeiten wie eine Aureole mit sich führende Weihnachtsbaum vor seinen Augen zwingt ihm so etwas wie Besinnung auf, eine Reminiszenz der eigenen
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