Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
dunkle Sonnenbrille, schließlich wollte er kein Risiko eingehen. Aber auch so fühlte er sich alles andere als wohl. Dieser Hipp machte ihn nervös, der Mann neigte dazu, sich unvermittelt umzudrehen. Auch schien er in Schaufenstern weniger die Auslagen zu betrachten als die Spiegelungen des Geschehens in seinem Rücken. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, aber diese Verunsicherung hielt ihn davon ab, näher aufzurücken. Allerdings wäre genau das notwendig gewesen, um eine sich ergebende günstige Situation auszunützen. Einmal, da verschwand Hipp in einem Caffè, während Sabrina alleine zur nächsten Kreuzung schlenderte. Ganz eng fuhren dort die Autos am Gehsteig vorbei, ein Linienbus näherte sich mit hohem Tempo. Er schätzte gerade die Chancen ab, ein schneller Sprint zu Sabrina, ein beherzter Stoß in ihren Rücken, ein Aufschrei, der rote Bus … Aber da sah er Hipp schon aus dem Caffè treten – die Gelegenheit, wenn es denn eine war, sie war verpasst. Spätestens in diesem Moment war ihm klar geworden, dass er in Mailand nicht zum Zuge kommen würde. Hätte er die beiden vielleicht von den Terrazzi des Doms stürzen sollen? Wie sollte das gehen? Und das Gewehr in seinem Kofferraum? Er konnte wohl kaum mit einer Jagdbüchse durch Mailand spazieren und etwa bei Giorgio Armani über den Lacktisch mit den schwarzen Hemden hinweg auf sie anlegen? Oder vor dem Hochaltar im Duomo Santa Maria Nascente? Inmitten einer japanischen Reisegruppe? Nein, dafür brauchte er freies, menschenleeres Gelände. Außerdem war er kein geborener Killer. Ihm fehlte es nicht nur an Erfahrung, sondern auch an krimineller Phantasie – wobei Letztere entwicklungsfähig schien, wie er mit durchaus gemischten Gefühlen feststellen konnte.
Aus einem Hauseingang sprach ihn eine Frauenstimme an: »Ciao, tesoro, hai voglia di farti una bella scopata?« Ob er Lust auf eine schnelle Nummer habe? Nein, bedaure, kein Bedarf. Mit Eva-Maria, ja, da hätte er jetzt Lust gehabt. Aber dazu war es zu spät. Eigentlich auch mit Sabrina, doch bedauerlicherweise musste er sie umbringen. Und das würde ihm wohl kaum gelingen, wenn er mit ihr ins Bett ginge. Obwohl? Der Gedanke erregte ihn.
33
D esdemona saß kichernd am Steuer eines Automobils. Sie hatte eine weiße Toga an, und ihre Fingernägel waren rot lackiert. Neben ihr räkelte sich Sabrina, halb nackt, die gespreizten Beine auf dem Armaturenbrett. Im Rückspiegel war eine Kutsche zu erkennen, die den Kleinwagen verfolgte. Othello hatte eine Peitsche in der Hand und feuerte die Pferde an. Sein Mohrengesicht war schweißüberströmt. Das Orchester setzte ein …
Hipp wühlte sich aus dem Kopfkissen und öffnete vorsichtig die Augen. Was war denn das für ein abgefahrener Traum? Noch im Halbschlaf beschloss er, auf eine psychologische Analyse zu verzichten. Ihm schwante, dabei würde nichts Gutes herauskommen. Vor allem diese lüsterne … Wo war sie eigentlich? Dass Sabrina heute Nacht bei ihm im Bett gelegen hatte, war kein Traum, da war er sich sicher. Außerdem roch das Kopfkissen nach ihr. Wie spät war es eigentlich? Er peilte zur Digitalanzeige über dem Nachtkasten. Zehn Uhr? Na, Respekt, da hatte er mal wieder ordentlich verschlafen. Das passierte ihm häufig, er war alles andere als frühaktiv, so etwas wie eine senile Bettflucht würde es bei ihm nie geben. Langes Schlafen war ein Privileg seines an keinen Terminkalender gebundenen Lebens. Außerdem hasste er es, frühmorgens mit Problemen und übelgesichtigen Menschen konfrontiert zu werden. Diesem unabwägbaren Risiko entging man am besten durch konsequentes Ausschlafen, wie er das bis vor wenigen Tagen auch in der Toskana mit Erfolg praktiziert hatte. Aber da war noch keine Sabrina an seiner Seite, auf die er aufzupassen hatte, weil sie in höchstem Maße …
Schlagartig war Hipp hellwach. Er stand auf, lief durch die offene Verbindungstür in Sabrinas Zimmer, sah im Bad nach, kam zurück und entdeckte einen Zettel. »Buongiorno. Bin am Pool!« Am Pool? Hipp ging unter die Dusche, verzichtete nach kurzem Nachdenken darauf, sich zu rasieren, zog sich an, entdeckte beim Hinausgehen ein »Don’tdisturb«-Schild an der Türklinke seines Zimmers, drehte dieses um, fuhr mit dem Lift hinunter zur Rezeption und brachte dort in Erfahrung, dass es im Hotel de la Ville tatsächlich einen Pool gab, sogar mit Sonnenterrasse, und zwar oben auf dem Dach. Außerdem händigte man ihm einen Umschlag aus, der eine überraschende
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