Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
hatte? Das wäre dann wieder ein Steinchen im Mosaik. Ganz ähnlich wie heute Nachmittag, als sie in der Enoteca Cotti schon von größerer Entfernung alleine aufgrund der Gestaltung des Etiketts einige große italienische Weine identifizieren konnte. Wobei sie sich beim goldenen Stern des Sassicaia* spontan daran erinnert hatte, schon mal auf der Tenuta San Guido* in Bolgheri gewesen zu sein – vor vielen Jahren, zusammen mit ihrem Vater.
Jetzt war es um Desdemona geschehen. Othello hatte sie soeben eindrucksvoll erdrosselt. Nun betrachtete der Mohr wehmütig ihren regungslosen Körper. »Silenzio di tomba«, stellte er fest. Still wie ein Grab? Von wegen. Als Emilia kurz darauf die Bühne betrat, tat die verblichene Desdemona in makellosem Sopran kund, dass sie unschuldig hingemordet wurde: »Muoio innocente.« Und dann: »Al mio Signor mi raccomando. Muoio innocente. Addio.«
Hipp schaffte es, bis zum Schlussakkord wach zu bleiben, eine Leistung, auf die er in gewisser Weise stolz war. Zurück im Hotel, wartete er, bis Sabrina in ihrem Zimmer das Licht ausgemacht hatte, dann aber schlief auch er rasch ein. Es mochten einige Stunden vergangen sein, als er mitten in der Nacht aufschreckte. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte er. Hatte sich jemand an der Tür zu schaffen gemacht, die mit einem Stuhl unter der Klinke gesichert war? Nein, das war es nicht. Oder das gekippte Fenster hinter dem weißen Vorhang? Plötzlich merkte er, was ihn irritiert hatte. Neben ihm lag eine junge Frau in seinem Bett, eng an ihn gekuschelt, mit einem warmen Körper, mit schwarzen, zart nach Aprikosen duftenden Haaren, im Schlaf tief und gleichmäßig atmend. War das Sabrina? Ja, natürlich war das Sabrina, wer denn sonst. Wie kam sie hierher? Hatte er …? Nein, er hatte nicht, natürlich nicht. Er erinnerte sich an sein Versprechen, das er ihrem Vater gegeben hatte. Aber Sabrina machte es ihm schwer, ausgesprochen schwer. Zum ersten Mal kamen ihm nachdrückliche Zweifel, ob er seinen leichtfertigen Schwur würde halten können. Nun gut, er durfte Sabrinas beunruhigende Nähe nicht falsch interpretieren. Vermutlich hatte sie Angst gehabt, was nach ihrem erlittenen Trauma nur allzu verständlich war, und dann war sie im Halbschlaf, Schutz und Geborgenheit suchend, unter seine Decke gekrochen. Dies kam keiner Aufforderung gleich, mit ihr zu schlafen. Nein, ganz gewiss nicht. Das heißt, miteinander schlafen sollten sie schon. Das wäre auch für ihn das Beste, nämlich sofort wieder einzuschlafen. Wäre da nur nicht …? Hipp hob vorsichtig die Decke. Sabrina hatte zwar gottlob ein T-Shirt an, aber von einem Slip konnte er nichts entdecken, dagegen sah er ihren nackten Hintern, wie er sich an ihn presste. Um Himmels willen, er war doch kein Falsett singender Eunuche. Wie sollte er diese Nacht überstehen? Er versuchte an den schwarz geschminkten Mohren Othello zu denken, an den Fähnrich Jago und an Cassio in seiner Uniform. An Desdemona? Nein, an Desdemona dachte er besser nicht.
32
E r zuckte zusammen, als ihn in der dunklen Gasse eine Katze anfauchte. Es schepperte eine Mülltonne. Dann war es wieder still. Natürlich nicht wirklich, denn in einer Großstadt wie Mailand gab es auch in der Nacht um drei fortwährend Geräusche. In der Ferne eine abklingende Polizeisirene. Irgendwo ein Motorroller. Ein Rollladen wurde heruntergelassen. Der Widerhall von lachenden Nachtschwärmern. Vielleicht hatte er deshalb nicht schlafen können? Nein, wohl weniger, weil es draußen laut war, vielmehr wollte sein Kopf nicht zur Ruhe kommen. Er hatte sich angezogen und war losspaziert. Ohne Ziel. Einfach so. Er musste seine Gedanken sortieren, und das konnte er nun mal am besten beim Gehen. Das Viertel Ticinese war ihm nicht sonderlich vertraut. Aber das machte nichts, Hauptsache, er fand wieder zurück zum Hotel. Noch einige Stunden, hoffentlich mit etwas Schlaf, dann würde er aufbrechen, er musste weiter. Seine Mission, sie war gescheitert. Wenigstens vorläufig, hoffentlich nicht für immer. Er hatte das Schicksal herausgefordert, und jetzt musste er die Konsequenzen tragen. Koste es, was es wolle. Es gab keinen Weg zurück.
Den ganzen gestrigen Nachmittag war er den beiden gefolgt, in den Mailänder Dom, durch die Galleria Vittorio Emanuele II ., zur Via Monte Napoleone. Immer in großem Abstand, ab und zu hatte er den Anschluss verloren, sie dann vor einem Laden wieder entdeckt. Er hatte eine alberne blonde Perücke aufgehabt und eine
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