Hirngespenster (German Edition)
genau so war es. Mir war klar, dass er den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen war, für mich und die Jungs in seiner Wohnung Platz zu schaffen. Dennoch war er voller Mitgefühl und Betroffenheit, was Anna zugestoßen war.
Johannes versprach, sich Urlaub zu nehmen, damit ich wenigstens zwei Tage bei Anna und meinen Eltern bleiben konnte. »Schau nach den Versicherungen«, sagte er. »Matthias wird eine Lebensversicherung gehabt haben, dort muss man eine Kopie der Sterbeurkunde hinschicken.«
Dabei hatten wir noch nicht einmal den Totenschein. Doch dass ich mal einen Blick ins Arbeitszimmer werfen musste, war sowieso klar.
Sofort machte ich mich in Annas Haus auf den Weg nach oben und hing auf der Treppe weiter meinen Gedanken nach. Auch die Kfz-Versicherung musste informiert werden, das Auto war ein Totalschaden – von der demolierten Krankenhauseinfahrt ganz zu schweigen. Der Pfeiler war ebenfalls in starke Mitleidenschaft gezogen worden und würde ersetzt werden müssen.
Zunächst kam ich nicht ins Arbeitszimmer hinein, weil es abgesperrt war. Ich nahm wieder die Treppe nach unten, doch Anna wusste nicht, wo der Schlüssel stecken könnte. Sie kramte im Bett nach ihm, zwischen den Laken.
»Warum sollte er im Bett sein?«, fragte ich und stand mit verschränkten Armen daneben. Offensichtlich dachte sie nicht daran, aufzustehen. »Frag Matthias«, flüsterte sie, »er lässt mich nicht ins Arbeitszimmer.« Mit diesen Worten zog sie sich die Decke über den Kopf und war nicht mehr ansprechbar. Ich ließ die Rollläden herunter und schloss die Schlafzimmertür hinter mir. Es hatte keinen Sinn. Sie mit den Kindern allein zu lassen war undenkbar. Mein Vater war auch zu nichts zu gebrauchen. Er fegte den Hauseingang, statt vielleicht mal ein paar Leute anzurufen – man musste doch Matthias' Eltern informieren, seine Firma! Aber nein, es blieb alles an mir hängen, auch wenn ich das Gefühl hatte, als entgleite mir alles. Ich wollte zu Jens. Oder, besser ausgedrückt: Ich brauchte ihn und hätte ihn wahnsinnig gern bei mir gehabt – mit seiner starken Schulter an meiner Seite, so dachte ich, würde ich die Sache durchstehen können. Ohne ihn hatte ich wacklige Knie.
Und da hatte ich eben diese Idee.
»Da ist ein Herr von der Versicherung«, sagte meine Mutter eine Stunde später, und ich blickte klopfenden Herzens von den vor mir auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Unterlagen auf. Meine Mutter hatte den Schlüssel zum Arbeitszimmer schließlich gefunden, er hatte am Schlüsselbund in Matthias' Jacke gesteckt. Seitdem brütete ich über den Akten und verstand kaum ein Wort von dem, was ich las.
»Vielen Dank, Herr Reimer, dass Sie heute am Sonntag kommen konnten«, sagte ich und streckte ihm meine zittrige Hand entgegen.
Er nickte. »Keine Ursache.«
Meine Mutter schloss die Tür hinter uns, und ich legte meine heiße Stirn an seine. »Danke, dass du gekommen bist«, flüsterte ich, und er zog mich an sich.
Dann widmeten wir uns den vermaledeiten Unterlagen.
Wenn einer verstirbt, dann gibt es so verdammt viel zu tun. Jens hatte eine Liste dabei, die sich allerdings kaum von der Liste der Pietät unterschied, die wir mit der Abholung des Leichnams beauftragt hatten. Noch war Matthias' Körper nicht mal freigegeben worden, der Fall lag bei der Kriminalpolizei. An manche Dinge hätte ich nie im Leben gedacht – zum Beispiel eine Todesanzeige im Taunusanzeiger zu schalten, schließlich hatten Matthias viele gekannt. Die Pietät wollte sich darum kümmern, wir mussten nur den passenden Spruch aussuchen. Der Bestattungstermin musste festgelegt werden. Ich war unsicher: Wollte Anna eine aufwendige Bestattung, oder sollten wir »im engsten Familienkreis« schreiben? Ich eilte die Treppe nach unten und lugte ins Schlafzimmer. »Anna?«
»Ja?«, piepste sie unter der Bettdecke hervor, und ich trat näher.
»Wie willst du die Beerdigung?«, fragte ich. »Sollen viele Leute kommen, oder möchtest du lieber einen kleinen Kreis?«
Sie hob die Decke an und betrachtete mich angstvoll. »Bin ich tot?«, flüsterte sie.
Mich schüttelte es. »Ich spreche nicht von dir, Anna«, sagte ich, »ich meine Matthias. Er ist gestorben.« Und da lächelte sie. »Groß«, sagte sie. »Es soll eine große Beerdigung werden.«
So, so, groß also. »Hast du ein Adressbuch, in dem wir die Leute finden können, denen wir die Todesanzeige schicken müssen?«
Sie nickte. »Auf dem Schreibtisch steht ein Kästchen mit Visitenkarten.
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