Hirngespenster (German Edition)
Terrasse. Ich hinterher. Der Dicke hob einen dreckigen Lappen auf, der auf den Holzplanken herumlag, und steckte ihn in eine weitere Tüte. Was für ein Depp, dachte ich und schüttelte den Kopf. Und so einen bezahlten wir mit unseren Steuergeldern! In diesem Moment öffnete sich die Terrassentür der angrenzenden Doppelhaushälfte, und Christine Brückner trat heraus.
»Ist was passiert?«, fragte sie. Auch das noch, dachte ich und warf einem Seitenblick durchs Wohnzimmerfenster auf Herrn Schüssler, der mit offenem Mund meine Mutter ansah.
»Frau Brückner«, sagte ich und in dem Moment war mir wirklich zum Heulen, »mein Schwager ist gestorben.«
Sie glotzte mich verständnislos an. »Sie meinen Matthias?«, fragte sie schließlich und hielt sich an einem ihrer Teakstühle fest, die grau und nass auf der Terrasse überwintert hatten; ihr Gesicht war mit einem Mal aschfahl. Am liebsten hätte ich sie schnell abgefertigt, wollte mitkriegen, was die Polizisten trieben, und mit Herrn Schüssler sprechen; es gab noch so viel zu tun! »Ja«, plapperte ich weiter, »es hat einen Unfall gegeben, Anna ist gegen einen Pfeiler gefahren und Matthias ist dabei gestorben. Ist das nicht schrecklich?«
Sie glotzte noch verständnisloser als vorher. Ihr Blick glitt zu den Beeten, zum Gewächshaus. »Was will die Polizei hier?«, fragte sie. Berechtigterweise.
»Matthias hat sich mit Herbstzeitlosen eine Vergiftung zugezogen, und die wollten gucken, ob hier so was wächst.«
»Aha«, sagte sie. Es war ihr anzusehen, dass sie noch immer nicht begriff und die Gedanken in ihrem Gehirn mit meinen zugeworfenen Informationen nichts Sinnvolles anfangen konnten. Es hatte keinen Sinn, ich musste ihr die Angelegenheit von Anfang an erzählen.
Ich schloss mit den Worten: »Die Polizei ermittelt in alle Richtungen. Sie müssen den Verdacht ausschließen können, dass Anna ihm die Herbstzeitlosen ins Essen getan hat – dabei war er ja selbst Bärlauch pflücken! Aber die glauben das anscheinend nicht. Deshalb waren sie im Gewächshaus und haben die Beete abgesucht.«
»Herbstzeitlose wachsen nicht in Gewächshäusern oder in Beeten«, stellte sie fest.
»Ich weiß!«, rief ich. »Sie wachsen im Wald!«
»Und auf Wiesen, unter hohen Bäumen.«
Unsere Blicke glitt über den Rasen, hin zur Tanne und zurück.
»Wo ist Anna jetzt?«, fragte sie schließlich. »Und die Kinder?«
»Am besten, Sie kommen mit rüber und schauen, wo Sie mit anpacken können. Die Kinder brauchen vertraute Gesichter. Wir haben jemanden von der Versicherung da, die Polizei wird wieder mit Anna reden wollen, und einer der Kollegen meines Schwagers wartet auf dem Sofa – mit dem muss ich dringend reden. Anna steht unter Schock, sie liegt im Bett und mein …, der Versicherungsmensch ist bei ihr.« Ich schwitzte, trotz der Kühle, die auf der Terrasse herrschte.
»Ich komme mit«, sagte sie, und ich wunderte mich darüber, dass alle so patent waren. Christine Brückner hatte keinerlei Zeit, die Neuigkeiten zu verdauen, sie ging direkt in Automodus über, wie wir alle. Nur dieser Kollege nicht. Als ich mit Christine Brückner das Wohnzimmer über die Terrasse betrat, saß meine Mutter bei ihm und hatte einen Arm um seine Schultern gelegt. Er war der Erste, der wegen Matthias' Tod weinte, und mir wurde schlagartig klar, dass wir anderen abartig reagierten mit unserer Papierkrämerei, wie wir uns keine Sekunde Zeit ließen, die Dinge zu verarbeiten, von Trauer schon gar keine Spur. Zwar waren die Verhältnisse nicht gut genug gewesen, aber trotzdem, keiner hatte sich erlaubt, zumindest mal in die Luft zu starren. Christine Brückner jedoch hatte nach Markus Schüsslers Anblick einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, und ich nahm sie beim Arm. »Setzen Sie sich dazu«, wies ich aufs Sofa, »ich hole uns einen Kaffee.«
Während ich diesen zubereitete, musste ich an die Geschichte denken, die ich über George W. Bush gehört hatte. Demnach hat er zu der Zeit, als zeitgleich Flugzeuge in die Zwillingstürme gekracht und andere aufs Pentagon zugerast waren, in einer Schule gesessen und den Kindern dort vor laufenden Kameras aus einem Lesebuch vorgelesen. Ein üblicher PR-Termin an einem ganz normalen amerikanischen Tag. Einer seiner Vertrauten mit Knopf im Ohr hatte ihn plötzlich in seinem Lesen unterbrochen und ihm etwas ins Ohr geflüstert, ich nehme an, es war etwas wie: »Mr. President, die USA fallen in diesem Moment einer Anschlagswelle ungeahnten Ausmaßes zum
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