Hirngespenster (German Edition)
fragte ich Anna, die noch immer die Augen geschlossen hielt.
»Die Blätter der beiden Pflanzen unterscheiden sich kaum«, erklärte der Arzt. »Man erkennt es nur am Geruch. Aber wenn man schon einen Korb voller Bärlauch geerntet hat, dann riechen die Finger sowieso nur nach Bärlauch.«
Trotzdem, es passte nicht zu Matthias. Andererseits war es mühselig, darüber nachzudenken – wir konnten ihn nicht mehr danach fragen.
Meine Mutter und ich verbrachten den Rest der Nacht an Annas Bett und warteten am nächsten Morgen auf die Entlassungspapiere. Matthias' Leichnam hatte man in die Rechtsmedizin verlegt. Anna hatte man Blut entnommen – doch darin war kein Tropfen Alkohol zu finden gewesen. Das hätte ich denen auch so sagen können. Es mussten die pure Panik und die Sorge um Matthias gewesen sein, die sie zu dieser Raserei gebracht hatten. Gegen einen Krankenhauspfeiler zu knallen – kurz vor dem Ziel! Ich überlegte, ob man sich damit strafbar machte. Vermutlich nicht. Vielleicht reichte das für fahrlässige Tötung – ich kannte mich mit diesen Rechtsbegriffen nicht aus.
Bevor wir die Entlassungspapiere erhielten, bat der Arzt uns noch einmal zu sich. »Ihre Tochter«, wandte er sich an meine Mutter, »hatte zwar keinen Alkohol, aber eine große Menge Beruhigungsmittel im Blut. Mit Sicherheit war ihre Reaktionsfähigkeit eingeschränkt. Ich gehe zwar davon aus, dass sie aufgrund der ganzen Aufregung etwas eingenommen hat, aber Sie sollten die Sache besser im Auge behalten.« Wir nickten bereitwillig und todmüde. Auch ohne diesen Auftrag würden wir sie im Auge behalten.
Als wir endlich die Entlassungspapiere in Händen hielten und mein Vater zum x-ten Mal meine Mutter angerufen hatte, nahmen wir Anna links und rechts am Arm und verabschiedeten uns von dem Arzt. »Alles Gute«, sagte er und gab Anna die Hand.
»Ich verreise«, sagte Anna, und wir warfen uns alle einen bedenklichen Blick zu.
»Bleibt jemand bei ihr?«, erkundigte er sich.
Ich nickte. »Ich. Zur Not muss sie mit den Kindern zu meinen Eltern.«
»Ich verreise«, sagte sie wieder, und wir zogen sie mit uns. Wir hatten keine Ahnung davon, was uns noch erwartete.
Zunächst ging die Reise für Anna nach Hause. Dass Matthias tot war, schien sie nicht zu realisieren. Mein Vater hatte den Kindern am Morgen erzählt, Mama und Papa kämen bald wieder. Er hatte sich nicht getraut, ihnen die schlimme Wahrheit zu sagen.
»Ist die Mama auch tot?«, hatte Luna ihn gefragt, und uns war es ein Rätsel, wie feinfühlig das Kind war. Woher wusste sie, dass der Papa tot war? Keiner hatte es ihr gesagt. Auch Anna verlor darüber kein Wort. Matthias sei im Krankenhaus, sagte sie und beharrte darauf, dass es stimmte.
»Anna«, flehte ich und nahm sie beiseite, »Matthias hat sich eine Vergiftung zugezogen, und als du ihn ins Krankenhaus fahren wolltest, hattet ihr einen Unfall. Er ist gestorben.«
Anna nickte. »Er kommt nicht mehr«, stellte sie fest und kramte in seinen Jackentaschen im Flur.
»Was suchst du denn?«, fragte ich.
»Einen blauen Umschlag«, erklärte sie, wedelte schließlich mit einem solchen vor meinen Augen und fuhr fort: »Von TUI.« Zärtlich drückte sie das Kuvert an ihre Brust.
In diesem Moment dachte ich buchstäblich: Sie hat sie nicht mehr alle. Sie ist nicht nur gestresst und ausgepowert, nein, sie hat komplett den Verstand verloren.
»Ich glaube kaum, dass du verreisen kannst, Anna«, wandte ich ein und schob sie zum Schlafzimmer. »Wir müssen uns um den Papierkram kümmern, die Beerdigung ist zu organisieren, wir müssen die Versicherungen raussuchen.« All die Arbeit, die auf uns zukam. Und genau an diesem Tag hatte ich mit Johannes sprechen und zu Jens ziehen wollen. Ich konnte meine Pläne vergessen; das war mir schon in dem Moment klargeworden, als meine Mutter mich in der Nacht angerufen hatte. Ich konnte nicht zu Jens ziehen, für lange nicht. Alle Aufmerksamkeit galt nun Anna und den Mädchen, mehr als je zuvor. Meinen Eltern konnte ich es unmöglich zumuten, sie gleichzeitig mit dem Scheitern meiner Ehe zu konfrontieren. Zu oft hatte ich mir gerade in der letzten Zeit anhören müssen, wie froh sie seien, dass bei mir »alles in Ordnung« war. Ja, alles in Ordnung. Ich hatte meine sechs Sinne beisammen, mein Mann lebte. Alles war in Ordnung.
Jens schwieg lange, als ich ihn anrief. Ich konnte seine Enttäuschung förmlich durch die Leitung greifen. »Deine Familie geht vor«, sagte er schließlich, und
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