Hirngespenster (German Edition)
Hexe.«
»Ich hatte richtig Angst vor ihr«, flüsterte meine Mutter.
»Und dann?«
»Ich hab ihr was gegeben, ich dachte, die Nachbarschaft läuft gleich zusammen und die Kinder werden wach.« Meine Mutter weinte nun und flüsterte nur noch – bei dem Lärm, der draußen herrschte, war sie kaum mehr zu verstehen. »Gestern erst haben wir den Kindern gesagt, dass der Papa nicht mehr wiederkommt. Und jetzt müssen wir auch noch die Anna wegbringen«, flüsterte sie. »Sie muss in eine Klinik, Silvie, so kann es doch nicht weitergehen. Sie nimmt zu viele Tabletten! Und wenn wir ihr jetzt nicht helfen, dann können wir sie auch noch beerdigen!« Sie legte den Kopf in die Hände, und ihre Schultern zuckten vom verzweifelten Weinen. Mein Vater nahm sie in den Arm: »Na, na, Angelika. Nun mal mal nicht den Teufel an die Wand. Wir geben sie nach Bad Orb. Du weißt doch, da war doch auch die Tochter vom Helmut.«
»Ach Horst«, winkte meine Mutter ab. »Die Tochter vom Helmut war Alkoholikerin. Das kannst du doch mit der Anna nicht vergleichen!«
Mein Vater und ich tauschten Blicke. Dann sagte ich: »Bad Orb finde ich eine gute Idee, Mama. Wenn das eine Suchtklinik ist, dann ist sie dort auf jeden Fall richtig.«
»Sie ist doch nicht süchtig, wie kannst du denn so etwas sagen!«, rief sie.
Ich warf die Hände in die Luft, ich konnte nicht mehr. »Natürlich ist sie süchtig! Sie schreit rum, weil sie ihre Tabletten braucht! Sie steht mitten in Gesprächen auf, läuft ins Schlafzimmer und wühlt in Schubladen. Sie setzt die Kinder stundenlang vor den Fernseher, duscht tagelang nicht, rennt im Hausanzug aus dem Haus, hortet verschimmelte Joghurtbecher im Kinderzimmerschrank – Mama, das ist doch nicht normal! Sie muss von den Tabletten weg und vor allem, Leute, was viel wichtiger ist: Es muss mal einer rausfinden, warum sie die Tabletten überhaupt nimmt! Irgendwas ist doch hier los! Man kann doch nicht immer weiter so tun, als wäre nichts, immer nur hoffen, dass alles besser wird – aber es wird nicht besser! Sie hat Matthias tot gefahren, das ist passiert, und wenn wir nicht alles tun, um ihr zu helfen, dann wird den Kindern auch noch was passieren!« Ich ließ mich erschöpft aufs Sofa plumpsen und weinte nun auch.
Mein Vater tätschelte mir die Wange und räusperte sich. »Wir müssen sie nur dazu bewegen, in die Klinik zu gehen. Und wir müssen erst mal die Beerdigung hinter uns bringen. Und die Trauerpost verschicken. Und was ich schon die ganze Zeit fragen wollte, Silvie, was ist eigentlich mit der Lebensversicherung?«
Ich bekam Schluckauf. Auch das noch. »Warte, bis … der Mann von der Versicherung kommt. Wir sind noch am Sondieren. Kümmere du dich um diese Klinik – sie muss vom Hausarzt eingewiesen werden. Vorausgesetzt sie geht freiwillig, du musst mit ihr reden.«
Ich war am Ende. So viel zu tun. So viel zu besprechen. So viel Scheiße vor mir.
Manchmal streiten sie. Früher ja nicht, da waren sie ein Herz und eine Seele. Jetzt geht es meistens um mich, das ist das Schlimmste daran. Dass Johannes sich zu wenig um mich kümmert zum Beispiel. Sie meint, alles bliebe an ihr hängen. »Die Jungs, der Laden und sie!« – damit meint sie dann mich. Er trage zu wenig bei. Sie renne immer nur treppauf, treppab und komme nicht zur Ruhe. Ruhe, die sie dringend brauche.
Ich sehe, wie es in ihm brodelt. »Du wolltest es doch so!«, brüllt er, und »irgendwer muss doch das Einkommen sichern!« Letztens rief er noch: »Du machst zu viel Aufhebens um alles! Immer muss alles perfekt sein! Rennst mit den Jungs zum Schwimmen, zum Turnen und zur Musikschule! Und mit ihr«, damit bin wieder ich gemeint, »zu tausendundeiner Gruppe – für was auch immer das gut sein soll! Nutzt doch sowieso nichts, das Ganze!«
Ich schaue mit tränennassen Augen von einem zum anderen, wie bei einem Tennismatch. Manchmal heult sie auch, dann sind wir schon zwei, und wir liegen uns in den Armen. »Wir machen ihr Angst«, sagt Johannes dann beschwichtigend und kommt auch noch dazu. Immerhin spricht er dann leiser. »Nimm dir nicht immer zu viel vor, Sabina. Ein, zwei Termine die Woche reichen doch. Sie müssen nicht schwimmen, turnen und singen. Oder von heute auf morgen fließend sprechen. Das wird schon.« Manchmal nehmen sie mich dann in ihre Mitte, damit ich mich beruhige. Und dann küssen sie sich ganz lange, über meinen Kopf hinweg.
An anderen Tagen schimpft Sabina mit Nils und Ole – besonders mit Ole, weil er viel
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