Hirngespenster (German Edition)
Schublade«, überging sie meine Frage. »Wir werden ja sehen, wann sie nach Nachschub verlangt.«
Wieder dachte ich daran, dass ich Anna schon mal Tabletten besorgt hatte. Damals hatte ich nicht einmal einen Blick auf die Packung in der Tüte geworfen, die mir die Apothekerin überreicht hatte. War davon ausgegangen, dass es etwas wie Valium war – ein Mittel, um Annas Nerven zu beruhigen. Mich fröstelte, und ich schaute wieder auf die vielen Schachteln. Nahm sie so lange schon dieses Zeug? Hatte sie nicht damals gesagt, sie nehme das nur in Notfällen – und was für ein Notfall war das noch mal gewesen? Und dann erinnerte ich mich. Nach ihrer OP war es gewesen. Acht Monate war das her.
Ich sah meine Mutter an und fragte noch mal: »Wusstest du davon?«
»Mama dachte, sie nähme nur ab und zu mal was zur Beruhigung und dass es Teil ihrer Therapie sei«, erklärte ich wenig später Johannes, der müde am Küchentisch saß und Ole einen Brei einflößte. Eines der selten gewordenen Gespräche, das sich nicht um die Kinder drehte.
»Macht sie denn eine Therapie?«, fragte er überrascht.
»Das ist es ja gerade! Letzte Woche hat sie mir erst gesagt, dass sie gar keine macht. Dabei sind wir die ganze Zeit davon ausgegangen – sie hat es ja ständig behauptet!« Mir qualmte der Schädel.
»Von der ganzen Sache weiß ich gar nichts«, sagte er erstaunt. »Du erzählst mir sowieso rein gar nichts mehr, Silvie, und du bist – ganz abgesehen von dieser Sache mit Matthias – auch kaum mehr zu Hause.« Er wirkte plötzlich sehr ernst, sein Gesichtsausdruck war besorgt und gleichzeitig entschlossen. »Und wenn wir schon von Therapie sprechen, was hältst du davon, wenn wir beide eine Paartherapie machen würden?«
Ich lachte laut auf, so lächerlich war dieser Vorschlag für mich. »Wir beide?«, fragte ich kopfschüttelnd.
»Was gibt es da zu lachen?«, fragte er. »Ist dir das unsere Beziehung nicht wert, meinst du das so?«, verlangte er herausfordernd.
Ich betrachtete ihn still, ließ die Chance des Outings verstreichen. »Es ist nicht der richtige Zeitpunkt«, antwortete ich. Und was ich damit meinte, das wusste nur ich allein.
Am nächsten Morgen brachte ich Nils und Ole in die Krippe und rief vom Auto aus Jens an, verabredete mit ihm, dass er nach der Arbeit nach Bad Homburg käme, um mir weiter zur Seite zu stehen, und fuhr zum Haus meiner Schwester.
Dort angekommen, konnte ich fast nicht zum Haus vordringen, weil die Auffahrt von einem riesigen Schuttcontainer belegt war.
»Was ist denn hier los?«, murmelte ich und quetschte mich mit eingezogenem Bauch an dem Stahlungetüm vorbei, nachdem ich an der Straße geparkt hatte. Meine Mutter öffnete mir hektisch die Haustür und zog mich ins Innere, wo ein ohrenbetäubender Lärm herrschte.
»Was ist denn hier los?«, fragte ich erneut und tappte ins Wohnzimmer, wo der Lärm herzukommen schien. Sprachlos sah ich aus der großen Fensterfront in den Garten.
»Die schälen den Rasen ab – seit heute Morgen um sieben«, sagte mein Vater und tippte sich an die Stirn.
»Wer hat das veranlasst?«, fragte ich verständnislos.
»Die Nachbarin, diese Frau Brückner!«, erklärte meine Mutter und hob beide Hände. »Angeblich hat ihr Mann nur heute Zeit, den Rasen abzuschälen, und morgen will er ihn neu ausrollen. Stell dir das mal vor – im März!«
»Dabei war der alte noch gut«, stellte mein Vater kopfschüttelnd fest.
Mir fiel wieder ein, dass Christine Brückners Mann im Gartenbaugeschäft tätig war, und ich betrachtete nachdenklich das Gefährt, das eifrig Bahn für Bahn Rasen abfräste. Zögernd reckte ich meinen Hals zur Tanne hin, die in der Mitte des Grundstücks stand und rein optisch die Trennlinie zum Nachbargrundstück hin bildete. Unter der Tanne stand kein einziger grüner Halm mehr – das Grundstück sah aus wie nach einem Erdrutsch. Ich fragte mich, was die Polizei dazu sagen würde, und setzte mich zu meiner Mutter. In meinem Kopf pochte es. »Wie war die Nacht?«, fragte ich und warf ihr einen prüfenden Blick zu.
»Sie hat geweint.«
»Geschrien hat sie, Angelika, sag's ihr ruhig«, sagte mein Vater und rieb sich die Augen.
»Weshalb?«, fragte ich, aber ich konnte mir die Antwort schon denken.
»Tabletten wollte sie«, sprach mein Vater weiter. »Und beschimpft hat sie uns. Wir wollten sie umbringen und die Kinder. Wir sollten verschwinden. Wir haben ihr erklärt, dass Matthias tot ist, und da hat sie gelacht wie eine
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