Hirngespenster (German Edition)
und deutete auf die Zahl 50.000 auf einem Kontoauszug aus dem Oktober, nachdem ich ihm vom ersten Teil des Gesprächs mit Herrn Schüssler erzählt hatte. Finanziell hatten er und Anna also gar nicht so schlecht dagestanden, bevor er seine Anteile erhöht hatte. Und dann fehlten zwei Monate lang die Provisionen, die sonst regelmäßig eingegangen waren. Und wenn man nun bedachte, dass Anna seine Post in Unordnung gebracht hatte und er tatsächlich von den Mahnungen der Versicherungen nichts bemerkt haben sollte – dann komplettierte sich das Bild, das ich langsam von ihm gewann: Er hatte getan, was er konnte.
Bei diesem Gedanken musste ich mich erst einmal setzen.
»Er war eigentlich gar nicht so verkehrt«, brachte Jens meine Gedanken zum Ausdruck; ich nickte nur. Ich erinnerte mich plötzlich an ein paar Dinge, die mir vollkommen entfallen waren. Zum Beispiel wie er am Anfang ihrer Ehe einmal bei meinen Eltern zu Hause gesessen und im Spaß zu Anna gesagt hatte: »Mach dich mal locker, Schatz.« Und ihr eiskalter Blick danach, der mir einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Wenn sie ihn genauso behandelt hatte wie mich jahrelang – wenn er ihr nie etwas hatte recht machen können, dann leuchtete mir auch ein, dass er sich irgendwann aus allem raushielt. Nur – wann war der Wendepunkt gekommen? Ab wann war sie zum Mäuschen geworden, hatte nichts mehr aus sich gemacht? Oder war alles ein schleichender Prozess gewesen, ohne konkreten Anfang? Ich wusste ja noch nicht mal, was ihr fehlte!
Als hätte er meine Gedanken lesen können, fragte Jens: »Hat deine Schwester eigentlich ein Problem mit Tabletten?«
»Wieso? Wie kommst du darauf?«
Jens sah mich eindringlich an, als überlege er, wie viel Wahrheit ich heute noch verkraften konnte. »Du warst gerade mit den beiden Polizisten beschäftigt, da hat sie nach dir gerufen. Ich dachte, sie hätte Durst, sie hat nach etwas zu trinken verlangt. Es lag eine Flasche Wasser am Boden neben ihrem Bett, so dass sie sie nicht sehen konnte, und ich hab sie ihr gereicht. Naja, und da zog sie die Schublade von ihrem Nachttisch auf, die quoll fast über von Tablettenschachteln. Ich denke, die meisten davon waren zwar leer – aber abgesehen davon scheint sie einen ganz ordentlichen Konsum zu haben.«
Ich leckte mir über die Lippen. »Wie viele hat sie genommen?«
»Als ich bei ihr saß, nahm sie mindestens vier. Zwei verschiedene Sorten. Jeweils zwei. Sie hat sie sich alle auf einmal in den Mund gelegt und gerade so runtergespült, mit einem Schluck Wasser.«
»Vier auf einmal? Da würde ich kotzen müssen!«
»Frag mich mal. Danach hat sie wieder die Augen zugemacht und ist sofort eingeschlafen.«
»Ach so, dann waren es also Schlaftabletten?«, fragte ich.
Jens sah mich erstaunt an. »Davon bin ich ausgegangen. Was denkst du denn?«
»Im Krankenhaus war von Beruhigungsmitteln im Blut die Rede«, sagte ich tonlos. »Der Arzt meinte, wir sollten das beobachten. Das fällt mir erst jetzt wieder ein.«
»Sprich mal mit deiner Mutter. Ich würde vorschlagen, ihr räumt die Schublade aus und dann schaut ihr, was passiert. Vielleicht reagiert sie ganz cool, und man kann die Sache vernachlässigen. Ansonsten müsstet ihr mal mit einem Arzt sprechen. Ich weiß ja nicht, wie lange das schon läuft, aber wenn's gar nicht anders geht, dann muss sie in eine Klinik.«
»In eine Klinik, du machst mir Spaß«, feixte ich. »Wir haben eine Beerdigung zu bewältigen, wir müssen eine Million auftreiben und in Erfahrung bringen, ob Matthias eine Unfallversicherung hatte, und was weiß ich noch für Dinge, die mir jetzt gerade nicht einfallen, weil ich hundemüde bin«, gähnte ich. »Ich muss heim zu den Jungs.«
Jens nickte. »Soll ich morgen wiederkommen?«, fragte er.
Ich stand auf und umarmte ihn. »Mein Fels in der Brandung«, flüsterte ich. »Ich liebe dich.«
Bevor ich ging, sprach ich noch kurz mit meiner Mutter, und wir inspizierten leise die Schublade in Annas Nachtkästchen, dessen Inhalt fast nur aus leeren Schachteln bestand. Es war ein heilloses buntes Durcheinander an Schlafmitteln, Tranquilizern und Antidepressiva. Die Namen der Medikamente sagten mir nichts, ich kannte mich nicht aus mit diesen Dingen, und die Beipackzettel überflog ich nur; die Liste der Nebenwirkungen war lang und beängstigend.
»Wusstest du davon?«, flüsterte ich meiner Mutter zu, um Anna nicht zu wecken, und deutete auf den Haufen.
»Wir lassen nur die leeren Packungen in der
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