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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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sich wütend an, dann beginnen sie beide so zu lachen, dass ihnen
die Wimperntusche übers Gesicht läuft. Luba zieht ein Taschentuch aus der Jeans
und wischt Marjanas Gesicht sauber.
    Im zweiundzwanzigsten Stock steigen sie aus dem Aufzug und lassen
sich an der Rezeption den Schlüssel geben.
    ***
    In dem Schnellrestaurant beim Bahnhof sitzen fast nur einsame Männer,
jeder von ihnen an einem eigenen Tisch, mit einem großen Glas Bier vor sich.
Wiktor entdeckt seinen Mann sofort. Er sitzt an einem Fensterplatz, und zwar
so, dass er Wiktor wie jedem anderen, der das Lokal betritt, die linke
Gesichtshälfte zugewandt hat, die eine Narbe ziert, als habe ihn jemand mit dem
Beil gestreift und das Gesicht vom Ohr bis zum Mundwinkel aufgeschlitzt. Es sieht
aus, als seien die obere und die untere Hälfte des Gesichts leicht verschoben
wieder zusammengewachsen.
    Wiktor zögert nicht. »Ich bin Wiktor«, sagt er und setzt sich zu dem
Mann an den Tisch.
    »Ich weiß, wer du bist. Hast du die Ware?«
    »Natürlich.« Wiktor klopft auf den Koffer.
    »Wenn auch nur ein Schein fehlt, reiße ich dir den Arsch auf, klar?«
    »Klar, Mann. So einen ehrlichen Kurier wie mich habt ihr noch nie
gehabt.«
    »Aufmachen.«
    »Was, hier?«
    Wiktor legt den Koffer auf den Tisch und beugt sich schützend
darüber. Dann klappt er ihn auf. Mit einer herrischen Kopfbewegung fordert der
Mann ihn auf, eines der Bücher herauszunehmen. Er tut es, klappt es auf und
zeigt die Geldscheine, die in den ausgeschnittenen Seiten eingebettet liegen
wie in einem Sarg. Wiktor ist mächtig stolz auf seine Verpackungskünste, aber
der andere verzieht keine Miene.
    »Was darf’s sein?«, bellt eine Stimme von hinten.
    Wiktor klappt den Koffer zu und sieht auf. Die Stimme gehört zu
einer stämmigen Person mit Oberlippenbart, die eine Frau ist.
    »Bier«, bestellt er automatisch und zieht den eingeklemmten Daumen
unter dem Kofferdeckel hervor. Besorgt betrachtet er sein pochendes Nagelbett,
das bereits blau anzulaufen beginnt.
    Auch der Mann mit der Narbe sieht es und lächelt. Dann macht er eine
Kopfbewegung in Richtung Hinterzimmer.
    »Neben der Toilette ist eine Tür mit der Aufschrift ›Privat‹. Die
öffnest du, stellst den Koffer rein und nimmst den anderen, der dort steht,
mit. Und pass auf, dass du die Koffer nicht verwechselst, ja?«
    Wiktor steht auf. Jetzt bloß nichts persönlich nehmen.
    »Und fang da draußen nicht an, das Geld zu zählen, kapiert?«
    Stammt die Narbe von einem Tierbiss? Wolf, Bär, weißer Hai? Oder
doch von Jurijs Schnappmesser?
    Wiktor findet den Koffer hinter der Tür, öffnet ihn, zieht einen der
Scheine heraus, findet, dass er kein bisschen anders aussieht als die Blüten,
die er mitgebracht hat, macht den Koffer wieder zu und nimmt ihn mit. Auf der
Toilette lässt er sich kaltes Wasser über den Daumen mit dem blauen Nagel
laufen. Es hilft nichts. Der Schmerz ist größer, wenn der Finger nach unten
hängt. Als er ins Lokal zurückkommt, ist sein Bierglas zur Hälfte leer
getrunken.
    »Grüße an deine Heimat, Brüderchen«, schnarrt der Mann. »Und gib
nicht zu viel Geld aus hier im Westen, verstanden? Sonst haben sie dich
schneller am Wickel, als du dir in die Hosen scheißen kannst.«
    Wiktor hält Schweigen für die würdigste Antwort auf diese Warnung
und steht auf.
    »Falls es Reklamationen gibt: Wir wissen, wo du abgestiegen bist.«
    Wiktor sagt auch darauf nichts. Welche Reklamationen sollte es
geben?
    In einem Zug trinkt der Deutsche auch die zweite Hälfte von Wiktors
Bier.
    »Prost«, sagt Wiktor, nimmt den Koffer und verlässt das Lokal.
    Der Ausblick über die Lichter der Stadt ist atemberaubend. In der
Bar befinden sich außer einem Paar und einer Dreiergruppe Geschäftsmänner keine
weiteren Gäste. Der Barmann ist ein junger Schnösel mit aquamarinblauen Augen
und gegeltem Haar, dessen Servicementalität so diskret verpackt ist, dass man
sie für Unfreundlichkeit oder eben Schnöseligkeit halten könnte. In dieser Art
von Etablissement ist es nicht üblich, durch den ganzen Raum zu brüllen, um
seine Bestellung aufzugeben. Hier wartet man wohl oder übel so lange, bis der
Kerl sich herbemüht und anstelle einer sprachlichen Äußerung in Form einer
konventionellen Frage eine international gebräuchliche und auch Analphabeten verständliche
Mimik zum Einsatz bringt. Er zieht die Brauen hoch und kräuselt die Stirn, will
heißen: Was willst du alter Sack trinken?
    Wiktor weiß es nicht und zieht ebenfalls die

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