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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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einfach Praxis.
    Als Simon noch kleiner war, sind sie oft zusammen in die Berge
gegangen. Später ist er dann lieber mit seinen Freunden unterwegs gewesen, zum
Klettern, Skifahren, Tourengehen. Ein Jahr vor dem Abitur ist er dann
abgehauen. Hat sein Seil eingepackt und ist losgezogen in die weite Welt.
Highlinen heißt sein Sport. Er spannt ein Seil über eine Schlucht oder einen
Abgrund und geht dann barfuß, ohne weitere Hilfsmittel, nur mit einem
Beckengurt angeseilt, hinüber. Er hat seine Mutter eingeladen, ihn zu besuchen
und sich seine Events anzusehen. Aber sie ist immer noch sauer auf ihn.
    Dass er seine Schule nicht fertig gemacht hat, das hat sie ihm immer
noch nicht verziehen. Dass er nicht auf sie gehört hat. Dass er seine
Entscheidung ganz allein getroffen hat, ohne sich mit ihr zu besprechen. Er hat
sie angelogen. Sechs Wochen ist er nicht mehr zur Schule gegangen, und sie hat
nichts gemerkt. Alle haben es gewusst, nur sie nicht. Simon war volljährig. Er
hat sich vom Gymnasium abgemeldet, und sie war die Letzte, die es erfahren hat.
Und eines Tages war er dann weg. In Australien. Das hat er ihr in einer SMS geschrieben an dem Tag, als sie schon drauf und
dran war, ihn vermisst zu melden.
    Klaus von der Bergwacht reicht ihr eine Stirnlampe. Sie schnallt sie
am Helm fest.
    »Steigst du mir nach, Leni?«, fragt er.
    Sie nickt. »Muss ich auf irgendwas aufpassen?«
    »Die Öffnung ist nur hier oben so eng. Der Abstand zwischen Fels und
Eis wird größer, und nach zwölf, fünfzehn Metern hängst du frei im Schacht, und
dann geht’s nur noch senkrecht runter in die Höhle. Ich steh mit meiner Lampe
unten und leuchte dir. Und, äh …«
    »Ja?«, fragt Leni. »Gibt’s noch was?«
    »Ja, äh, wie soll ich sagen … der, der da unten liegt …«
    »Der da unten schaut nicht aus, als käme er gerade aus dem Speisesaal
im Hotel Edelweiß, meinst du das?«
    »Ja, genau.« Klaus lacht etwas gezwungen. »Es ist schon noch alles
an ihm dran, aber, na ja, verstehst …«
    Leni Morgenroth versteht ihn schon. »Achtzehn Jahre Kripo, Klaus. Da
hat man allerhand gesehn.«
    »Ja, des hab ich auch gedacht. Fünfundzwanzig Jahre Bergwacht. Und
trotzdem ist mir schlecht g’worden da unten.«

Berchtesgaden, Mai 1945
    Alexej hat Glück. Er muss nicht im Güterwagen zurück nach Kiew fahren.
Er bekommt einen Platz in einem Personenzug, die Sitze sind mit rotem Samt
bezogen. Ihm gegenüber sitzt Nicolai. Er hat Glück, einer der Ersten zu sein,
die zurück in die Heimat fahren dürfen. Aber Alexej ist nicht glücklich
darüber. Er weiß vom vielleicht größten Schatz aller Zeiten. Er will
hierbleiben. Aber er darf nicht, denn die alliierten Siegermächte haben
beschlossen, dass »Displaced Persons« wie er und Nicolai repatriiert werden. Da
ist er eigentlich einer der reichsten, wenn nicht der reichste Mensch der Welt,
in Wirklichkeit aber doch die allerärmste Sau. Zu schön hat er es sich
ausgemalt. Er weiß als Einziger von dem Schatz. Ein-, zweimal im Jahr mit dem
Rucksack hinuntergeklettert, sodass es keiner mitbekommt, ein paar Kilo Gold,
mal ein Pfund Edelsteine heraufgeholt, und dann das Leben genießen, frei von
Sorgen.
    Scheißleben, denkt er, während die flachen Landschaften zwischen
Berlin und Warschau am Zug vorüberfliegen. Noch einmal träumt er sich zu seinen
Schätzen, Regalkilometer voller Gold, Juwelen. Er denkt an den ausgeschlagenen
Zahn, die Kälte, den Hunger, die Schmerzen.
    Obwohl er es nicht will, denkt er auch daran, wie es war, als er
fürchtete, die Hände würden ihm abfrieren, nachdem er stundenlang ohne
Handschuhe im Göllschnee gewühlt hatte. Und wie er gedacht hatte, nun wäre doch
alles vorbei, als sich beim Abstieg der Schnee unter ihm in Bewegung setzte,
sich in Schollen teilte, plötzlich die Luft mit Eiskristallen füllte, sodass er
nicht mehr atmen konnte und zusammen mit dem Schnee auf eine Felsklippe zurollte.
Plötzlich war er in der Luft, völlig frei flog er, und statt Angst zu haben,
wunderte er sich nur. Er wunderte sich, dass er nicht schreien musste, dass er
gar keine Angst hatte, nur daran dachte, wie schön es hier war. Die Berge, die
Luft, die Sonne, das Blau des Himmels. In seiner Erinnerung war kein Geräusch
zu hören. Er sah nur Bewegung, fühlte Schwerelosigkeit und vielleicht zum ersten
Mal in seinem Leben Freiheit, die völlige Freiheit, und das war schön.
    Doch seine Freiheit hielt nicht lange an, denn kurz darauf knallte
zuerst der Schnee

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