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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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unter ihm auf einen steilen Hang, dann er selbst, und der
nachkommende Schnee wälzte sich auf ihn. Alles drehte sich. Es wurde dunkel,
und er wusste nicht länger, wo oben und unten, rechts oder links war. Wie in
einer Zentrifuge wurde er durchgeschleudert, durchgeknetet und geschüttelt und
kam schließlich zum Stillstand. Er fühlte sich wie einbetoniert, konnte keinen
einzigen Finger auch nur einen Millimeter bewegen. In seinen Nasenlöchern, im
Mund steckte der Schnee so fest, dass es unmöglich war, nach Luft zu schnappen.
Die Last des Schnees presste seinen Brustkorb zusammen.
    Umsonst überlebt, dachte er einen Augenblick lang. Doch dann fiel
ihm der Flug durch die Luft wieder ein, das Gefühl der Schwerelosigkeit. Und er
wusste, dass es sich, auch wenn es nun schlecht ausginge, trotzdem gelohnt
hatte, davonzulaufen und nicht mit den anderen erschossen im Graben zu liegen.
Auch wenn es jetzt vorbei war und er doch sterben musste.
    Dann ein Ruck, der Druck wurde noch einmal stärker, so stark, dass
er spürte und hörte, wie eine Rippe in seinem Brustkorb brach. Eine weitere
Lawine musste auf den über ihm liegenden Schnee gerutscht sein, und das Spiel
begann von vorne. Alles setzte sich in Bewegung, nur viel heftiger,
schmerzhafter und so dunkel.
    Wieder stürzte Alexej hinunter, wieder blieb er endlich liegen. Aber
er konnte sich bewegen. Er schlug mit letzter Kraft um sich, und nach ein paar
Minuten war er frei. Mit den Fingern holte er sich den Schnee aus Mund und
Rachen, atmete tief ein und schnäuzte sich den Schnee aus der Nase. Überlebt,
dachte er ein weiteres Mal. Hinter ihm der Fels, den er inmitten des Schnees
hinabgestürzt war, unmöglich, das zu überleben. Doch dass unmögliche Dinge
ständig passierten, wusste er längst. Darüber wollte er nicht nachdenken,
sondern machte sich auf den Weg nach unten.
    In sicherer Entfernung vorbei an einer Berghütte, obwohl er dort
etwas Essbares hätte finden können. Genauso gut aber hätten Soldaten oder
Wachen auf ihn warten können.
    Weiter hinab zur Straße, und da sah Alexej zum ersten Mal, wovon er
bisher immer nur gehört hatte. Amerikanische GI s
in ihren Jeeps, mit dem weißen Stern auf der Motorhaube. Ein warmer Frühlingstag
empfing ihn hier unten, am Fuß des großen Berges. Darum war wahrscheinlich auch
der ganze Schnee in Bewegung geraten und hatte ihn mit hinabgerissen. Die
Soldaten fuhren mit offenem Verdeck, braune Schiffchenmützen auf dem Kopf,
einen Arm ließen sie lässig aus dem Wagen hängen.
    Alexej blieb stehen, winkte, aber die Kolonne fuhr an ihm vorbei.
Keiner hielt an, keiner interessierte sich für ihn. Er war enttäuscht. Doch
dann stoppte der letzte Wagen: »Who are you?«, fragte
ihn ein dunkelhäutiger Mann, der erste, den er je zu Gesicht bekommen hatte.
    »Ich spreche nur Deutsch und Russisch«, antwortete Alexej. Der Mann
forderte ihn mit einer Geste auf einzusteigen, und dann ging es in einem Tempo,
das Alexej Angst machte, die kurvige Höhenstraße hinauf, bis sie die Kolonne
wieder eingeholt hatten.

Berchtesgaden, 29. Mai 2010
    Der Tote muss schlimm aussehen, wenn Klaus so ein Tamtam macht. So
drastisch hat Manfred Hofer, ihr Chef, ihr das natürlich nicht geschildert.
Aber nur nichts anmerken lassen.
    Klaus geht voran, ein Kollege bedient die Seilwinde. Dann seilt sich
Leni Morgenroth ab. Die zwei Kollegen von der Spurensicherung machen sich
bereit.
    In der Randkluft ist es kalt wie am Gletscher. Leni fröstelt. Die Nähe
des Eises ist beklemmend. Wie eine drohende Lawine hängt es über ihr. Sie kann
gar nicht nach unten sehen, so eng ist der Einstieg. Als sie sich etwa drei
Meter abgeseilt hat, gerät oben der Schnee in Bewegung. Einzelne Brocken lösen
sich und fallen herunter, aber Leni merkt, dass sich da noch mehr tun wird. Mit
den angerauten Kletterhandschuhen versucht sie, nach dem Fels zu greifen und
sich an ihn zu pressen.
    »Achtung!«, schreit Klaus von unten herauf. Sie sieht, wie sich eine
Wechte, ein überhängendes Schneebrett, löst und wie eine Dachlawine
herunterrauscht. Sie kann nichts tun, als dicht am Fels zu bleiben und nicht
loszulassen. Die nasse Schneemasse klatscht ihr auf den Helm und rutscht über
ihre Schultern nach unten. Sie hört das Aufprasseln auf dem Boden nicht, aber
einen weiteren Schrei von unten: »Leni, ist dir was passiert?«
    »Alles okay«, ruft sie und wischt sich den Schnee von der nassen
Schulter.
    Dann kommt sie im Abstieg tatsächlich weiter weg vom Eis, und

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