Hirschgulasch
wahrscheinlich auch anders vorgestellt«,
murmelt Klaus, während er noch einmal die Festigkeit der Gurte und der
Seilaufhängungen prüft. »Achtung«, sagt er dann ins Funkgerät, »Bergesack ist
im Seil, Winde marsch!«
Sie sehen zu, wie das verschnürte Paket hinaufgezogen wird. Die
Leiche darin wie eine Mumie.
Ein seltsamer Ort für ein Verbrechen, denkt sie während des
Aufstiegs. So eine Höhle, ein riesiges Loch im Berginnern, hat immer etwas von
einem Ort der Andacht, des Staunens. Nicht umsonst werden die Räume in Höhlen
oft »Kapelle« oder »Kathedrale« genannt. Sie strahlen etwas Erhabenes aus,
etwas vom Menschen Unberührtes, ohne sein Zutun Geschaffenes. Eine Welt ohne
ihn. Nun hat ein Mensch mit wenigen Schnitten seines Messers bestimmt, dass
dieser Ort zum Grab für seinen Kameraden, seinen Rivalen oder Feind werden
sollte.
Berchtesgaden, Mai 1945
Warschau. Mit Quietschen, Dampf und Radau fährt der Zug in den
Bahnhof ein. Nicolai lehnt sich aus dem Fenster, schreit, dass er am Verdursten
sei und endlich etwas trinken wolle. Die Türen sind verschlossen. Vielleicht
nur deshalb, damit keiner auf die Idee kommt, dass nun bessere Zeiten anbrechen
und alles wieder gut wird.
Kurz bevor der Zug wieder anfährt, kommt ein Mann in Uniform, wie
vom Kostümball übrig geblieben, und hebt einen Eimer Wasser ans Fenster.
Nicolai zieht ihn ins Abteil, stürzt mindestens einen Liter hinunter, dann
trinkt auch Alexej.
Er muss wieder an seine Flucht denken, sein Zusammentreffen mit den
amerikanischen Soldaten. Alexej hätte sie gern gefragt, ob der Krieg nun aus
war, wer gewonnen hatte und ob die Rote Armee noch existierte, wo sie stand.
Aber am allerliebsten hätte er gewusst, ob es für ihn etwas Frisches zum Anziehen
gab, irgendetwas ohne Läuse, das nicht stank und kratzte, und ob nicht
vielleicht irgendwo eine Badewanne mit heißem Wasser auf ihn wartete, in die er
sich mindestens eine Stunde legen konnte, ohne sich auch nur einen Millimeter
bewegen zu müssen, und dann irgendwann langsam damit beginnen würde, sich
einzuseifen.
Aber nicht nur weil er die Sprache nicht kannte, konnte er das nicht
fragen, sondern auch weil er wusste, dass sie ihn dann für verrückt halten
würden oder, wahrscheinlicher, für einen Provokateur, dem man am besten den
Gewehrkolben gegen die Rippen schlägt, damit er wieder zur Besinnung kommt.
Trotz der kurvigen Straße lenkte der GI lässig
mit einer Hand, mit der anderen kramte er umständlich in seiner Uniformtasche
herum und kam dabei einige Male gefährlich nah an den Fahrbahnrand, von dem aus
es steil in einen Abgrund ging.
»Hey«, sagte der Ami plötzlich und grinste
über das ganze Gesicht, »are you hungry?« Dann zog er
aus der Tasche, was er so wagemutig gesucht hatte. Eine Tafel Schokolade, die
Alexej in sich hineinstopfte, was für ihn nicht nur den Tag schöner, sondern
den GI auch gleich ein ganzes Stück sympathischer
machte. »I am Carl, and what’s your name?« ,
fragte er und deutete auf sich, dann auf Alexej, sodass es nicht schwer zu
erraten war, was er wissen wollte.
»Alexej« antwortete er und versuchte ein Lächeln trotz seines geschundenen
Gesichts. Und es war der erste Augenblick, der trotz allem, was passiert war,
so etwas wie Freude in ihm aufkommen ließ.
Warum sie überhaupt diese Höhenstraße hinauf und dann wieder
hinunterfuhren, wusste er nicht. Irgendwann verstand er, dass sie es taten,
weil sie die Sieger waren und es allen zeigen wollten. Alexej fühlte sich nicht
als Sieger, nur als Überlebender. Als sie wieder unten im Tal ankamen, wurde er
zum Kommandanten gebracht. Der behandelte ihn, als gehöre er auch zu denen, die
den Krieg verloren hatten. Als wäre er ein Verbrecher oder hätte gemeinsame
Sache mit den Verbrechern gemacht. Alles wollte er wissen, woher Alexej kam,
wieso er in Deutschland war, ob er sich freiwillig gemeldet und wo er
gearbeitet hatte. Als er fragte, ob er am Obersalzberg auch einmal Adolf Hitler
begegnet sei, konnte Alexej nicht mehr. Der Hunger, die Erschöpfung,
irgendetwas ließ ihn antworten: »Ja, ja, der kam öfter mal bei uns vorbei.«
Der Kommandant stutzte.
»Wie war Hitler so, als Mensch?«, wollte er wissen.
Alexej antwortete: »Er war gar nicht so schlimm, er hatte sogar
Hunde gern. Er hatte immer seinen Hund dabei, einen Schäferhund, ein sehr
schönes Tier.«
»Wie oft haben Sie Adolf Hitler gesehen?«
»Oft. Meistens kam er kurz nach dem Frühstück, manchmal auch noch
nach dem
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