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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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gefährlich
sein wie das, was er durchgestanden hat. Eigentlich müsste er bei den anderen
in der Grube liegen, bestenfalls im Schacht verhungern. Aber er hofft, dass er
es schaffen wird. Er glaubt an die Chance, die keiner sonst bekommen hat. Er
fragt auch nicht, wieso gerade er sie bekommen hat. Dafür gibt es keine
Erklärung. Oder es gibt eine, aber er versteht sie nicht.
    Er weiß nicht, wie viele Stunden er schon geklettert ist. Ziemlich
nass ist er geworden, aber es hilft nichts. Durch einen Wasserfall musste er
klettern, um weiterzukommen, und durch einen kleinen See waten, fast bis zum
Bauch im Wasser. Und immer wieder nach oben, über die glitschigen Felsen. Nicht
umdrehen und bloß nicht abrutschen. Irgendwann kann er nicht mehr. Er ist zu
erschöpft und legt sich in eine Nische, um ein wenig auszuruhen. Nach einem Kurzschlaf
geht es weiter, nach oben, immer nach oben, und es scheint kein Ende zu nehmen,
so weit ist der Weg in der seit Tausenden Jahren dunklen Höhle.
    Nie hätte Alexej gedacht, dass eine Höhle so lang und tief sein
kann. Er hat im letzten Jahr oft auf den Gipfel des Berges geblickt, hat
gesehen, wie hoch er ist, aber auch, dass er irgendwo endet. Und nun denkt er,
der Berg müsste bald zu Ende sein, und dann wird er sehen, ob es einen Weg ans
Licht gibt oder ob er in der Höhle für immer gefangen bleiben wird. Weil der
Eingang zu eng ist, um hindurchsteigen zu können, oder an einer Felswand nach draußen
führt, die hundert oder mehr Meter senkrecht nach unten stürzt. Aber selbst
wenn es so wäre, würde er versuchen hinauszukommen, denn schlechter als in
dieser ewigen Dunkelheit konnte es nirgends sein.
    Es wird kälter, immer mehr Eis ist in der Höhle. Alexej muss aufpassen,
nicht darauf auszurutschen. Bald ist alles voller Eis, aber immer noch ist es
dunkel. Doch Alexej spürt, dass er sich einem Ende nähert. Die eindringende
Luft lässt hier das Eis bestehen, das weiter unten wegen der größeren Erdwärme
keine Chance hat. Es können nur noch wenige hundert Meter sein.
    Er kommt an eine enge Stelle. Als er sich hindurchzwängt, meint er
von oben ein ganz schwaches, diffuses Licht zu erkennen. Doch vor ihm geht es
jetzt senkrecht nach unten, so tief, dass er trotz seiner Lampe den Boden nicht
erkennen kann. Ein enges Band führt zwischen der Felswand, dem Absturz und
einem großen Pfropfen aus Eis und Schnee hinauf zum Licht. Alexej kann es kaum
erwarten, stolpert und kann sich gerade noch an einem Eisklumpen festhalten, um
nicht zu stürzen. Als er die Balance wiedergefunden hat, tastet er sich weiter
voran und entdeckt ein paar Tritte und Griffe im Fels, an denen er nach oben
klettern kann.
    Dann blendet ihn plötzlich das Tageslicht. Er reckt den Kopf aus der
Dunkelheit hinaus ins Licht, während sein Körper noch in der Kluft zwischen dem
Eistrichter und dem Fels steckt, und Alexej möchte schreien wie ein
Neugeborenes, dessen Lungen brennen vom ersten Atemzug. Es ist die Freiheit,
die er atmet, und er wundert sich, denn sie schmeckt nicht süß, sie tut weh.
    Er schafft es, schafft es hinaus, wendet sich nach Nordosten und
kommt auf eine fast ebene Felsfläche, als die Sonne über die Flanke des Berges
steigt und ihn mit einem Schlag in ihr gelbrotes Licht taucht, das im Sommer
nur für wenige Minuten auf die Berge scheint, so schnell geht hier die Sonne
auf. Keine Wolke ist am Himmel, kein Mensch zu sehen. Es ist windstill und
kalt, doch bald schon wird die Sonne ihn wärmen.
    Er setzt sich auf einen Felsbrocken, das Gesicht der Sonne
zugewandt, und heult vor Glück, dass er es tatsächlich geschafft hat zu entkommen.
Und aus Trauer darüber, dass er allein ist und sein Freund Marek nie wieder
neben ihm sitzen wird.

Berchtesgaden, 29. Mai 2010
    Sie fahren in ihren Einsatzfahrzeugen die Kehlsteinstraße, die für den
Pkw-Verkehr gesperrt ist, hinauf. Das bringt den Linienverkehr durcheinander.
Die Busse stauen sich einmal auf dem Obersalzberg und ein zweites Mal oben am
Wendeplatz unterhalb des Eagle’s Nest. Von dort gehen die Besucher durch das
überdimensionierte Eingangstor in den Tunnel, der hundertvierundzwanzig Meter in
den Berg hineinführt, dann fahren sie im verspiegelten und messingglänzenden
Lift hundertvierundzwanzig Meter senkrecht hinauf in das Berghaus, das die NSDAP Adolf Hitler zum fünfzigsten Geburtstag schenkte.
Inklusive Zufahrtstraße, die auf sechseinhalb Kilometern siebenhundert
Höhenmeter überwindet. Hitler war nicht oft hier. Er fürchtete,

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