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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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sie
merkt mit jedem halben Meter, wie die Temperatur steigt. Nun sieht sie unten
auch Klaus mit seiner Lampe in der Höhle stehen. Vor seinen Füßen ein weißer
Haufen. Der Schnee ist in alle Richtungen auseinandergespritzt. Daneben ein
Körper, der aus ihrer Entfernung fast intakt aussieht. Die Höhle ist riesig.
Wahrscheinlich ist der ganze Berg voller Höhlen. Der karstige Dachsteinkalk ist
durchlässig für Regen- und Schmelzwasser, die sich unterirdisch Wege suchen.
    Als sie weiter hinunterkommt, sieht sie den Toten deutlicher. Der
Kopf liegt in einer dunklen Lache, das Blut ist an der Oberfläche leicht
angetrocknet.
    »Hat’s dich arg erwischt?«, fragt Klaus.
    Leni hakt sich aus dem Seil. »Hat schlimmer ausg’schaut, als es
war.«
    »Unsern Toten hat’s auch erwischt. Er hat noch etwas Eis zur Kühlung
abbekommen.«
    Leni zieht die Kletterhandschuhe aus und Latexhandschuhe an und sieht
sich den Toten genauer an. Blutergüsse an den Augen, dünne Blutfäden, die aus
den Nasenlöchern hängen, von den Mundwinkeln und aus den Ohrmuscheln. Der Helm,
der seinen Schädel schützte, ist durch einen glatten Riss wie mit einem Beil
sauber in zwei Teile zertrennt. Die Innengurte und die Schaumstoffeinlagen
halten den Kopf zusammen. Ob ein Schädelbruch vorliegt, wie Leni vermutet, wird
die Obduktion zeigen. Die Gesichtsform mit den knochigen hohen Wangen lässt
nicht auf einen Einheimischen schließen. Der Körperbau des Mannes ist kräftig,
durchtrainiert. Leni konzentriert sich auf die Umgebung, das felsige Gestein,
die Rinnen, durch die das Schmelzwasser abfließt, nach hinten in einen Gang,
der weiter in den Berg hineinführt. Der Tote hat die Augen weit geöffnet. Sie
erschrickt über den Ausdruck darin. Da ist Furcht, aber noch mehr Zorn.
Jedenfalls kein Nachgeben.
    Seine Bergausrüstung sieht wie neu aus. Auch die Seile, die neben
ihm am Boden liegen, scheinen neu. Gerissen ist da nichts. Seine Stirnlampe
leuchtet noch. Sie werden den Stand der Batterie untersuchen und herausfinden,
wie lange sie schon brennt. Der Sturz ist passiert, bevor der Aschenbrenner
dort oben vorbeikam. Also entweder sehr früh am Morgen oder noch in der Nacht.
Letzte Nacht war Vollmond, und es war sternenklar. Es ist nicht ungewöhnlich,
dass in solchen Nächten Bergsteiger aufsteigen. Eine Art Flutlicht-Berggehen.
    Sie geht in die Hocke. Die Jacke des Toten ist im Bereich des Bauches
nass und glibberig. Sie langt trotzdem mit einer Hand in eine Außentasche und
zieht etwas Weiches heraus, den Zipfel eines rötlich verfärbten Taschentuchs.
Als sie sieht, was es ist, schiebt sie es zurück. Den Rucksack werden sie
abschneiden müssen, wenn sie ihn abtransportieren.
    Anton von der Spurensicherung kommt unten an.
    »Habt ihr irgendwelche Spuren gesehen, als ihr runtergekommen seid?«
    »Nein, gar nichts«, sagt Klaus. »Nur den Toten mit seinen Seilen,
sonst überhaupt keine Zeichen, dass hier jemand war.«
    »Und der Schnee?«
    »Der ist frisch runtergefallen, grade als die Leni oben eingestiegen
ist.«
    »Ist dir was passiert?«, fragt Anton.
    Leni schüttelt den Kopf, packt eine Taschenlampe aus dem Rucksack
und beginnt, die Höhle auszuleuchten.
    »Anton, schau doch mal«, sagt sie. »Ich glaube, dahinten liegt was.«
    Der Mann von der Spusi geht in den Lichtkegel ihrer Taschenlampe
hinein und bückt sich nach einem grün schimmernden Gegenstand.
    »Ein Gasfeuerzeug«, sagt er. »Schau mal, was da für Hieroglyphen
drauf sind.«
    Leni dreht das Feuerzeug im Schein ihrer Taschenlampe.
    »Das heißt wahrscheinlich ›Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit‹ auf
Russisch«, sagt sie.
    »Kannst du Russisch?«
    »Nein, ich weiß auch nicht, ob es Russisch ist. Die Schrift ist
jedenfalls kyrillisch.« Sie gibt ihm das Feuerzeug zurück.
    »Vielleicht hat er es beim Absteigen oder im Fallen verloren.« Anton
steckt es in einen Plastikbeutel.
    »Vielleicht ist es auch gar nicht von ihm«, sagt Leni, »sondern von
der Person, die oben darauf gewartet hat, dass er absteigt.«
    Von oben wird ein Bergesack aus kräftiger orangefarbener
Plastikplane abgeseilt. Vorsichtig schneiden sie der fotografierten Leiche den
Rucksack vom Rücken und legen sie in den Sack. Klaus macht die Reißverschlüsse
zu und zieht die Gurte fest. Der Körper muss aufrecht transportiert werden,
weil er sonst nicht durch die enge Randkluft passt. Nur die mit Kreide auf den
Fels gezeichneten Umrisse der Leiche bleiben in der Höhle zurück.
    »Den Aufstieg hat er sich

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