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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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natürlich nicht
gedacht. Er knipst die Nachttischlampe an und hält das Blatt Papier darunter.
Es ist eine Schwarz-Weiß-Kopie oder ein Computerausdruck und zeigt einen
Ausschnitt aus einer Landkarte, wie es scheint.
    Was heißt das da? »Nationalpark«? Es sind Berge abgebildet,
Höhenlinien, Gipfel mit über zweitausend Metern Höhe. Ist das in Deutschland?
Er kann den Text nur entziffern, wenn er das Blatt auf maximale Armweite hält.
»Nationalpark Berchtesgaden«. Das liegt in Deutschland, oder ist das
Österreich? Hat das überhaupt etwas mit Wiktor zu tun, der zuletzt in diesem
Zimmer übernachtet hat, oder liegt das Ding schon ewig dort in der Bettritze?
Am rechten Blattrand sind handschriftliche Notizen zu erkennen. Was ist das
denn? Kann ein Mensch innerhalb eines Jahres so blind werden, dass er ohne
Brille nichts Handgeschriebenes mehr entziffern kann?
    Er schiebt das Blatt noch weiter in den Lichtkegel der Nachttischlampe.
Es ist keine Schrift, die er lesen kann. Das ist Russisch oder Kyrillisch. Das
heißt, das Blatt stammt also, wenn es hier nicht mit dem Teufel zugeht,
tatsächlich von diesem Kleinganoven Wiktor, der sich im Bahnhofslokal vor
Aufregung den Finger im Geldkoffer eingeklemmt hat und sich, ohne aufzumucken,
sein Bier von ihm hat wegsaufen lassen. Dieser Mistkerl! Das sanft
schmeichelnde Klingeln des Telefons reißt von Reichenberg aus seinen Erinnerungen
an den Kleinkaliber-Geschäftspartner. Ex-Geschäftspartner.
    »Ja?«
    »Bitte verlassen Sie jetzt sofort das Zimmer. Sonst rufe ich die
Polizei.«
    »Bin schon weg«, schnarrt von Reichenberg und legt auf.
    Berge über zweitausend Meter. Bayern oder Österreich. Will der mit
meinem Geld Urlaub machen, diese Kanaille? Nationalpark Berchtesgaden. Ist das
nicht da, wo auch der Königssee liegt, im südöstlichsten Zipfel Deutschlands?
Da, wo dieser Grinsebayer mit dem schwarzen Schnäuzer und der undeutlichen
Aussprache auf Kufen die Eiskanäle hinunterjagt? Hackl heißt doch dieser Kerl, dem
die Goldmedaillen um den Hals baumeln. Aber was will dieser Wiktor dort? Was
hat er vor? Meint er, dort wäre er vor Jurij und vor ihm sicher? Der Typ ist
doch nicht bescheuert. Der kann von Deutschland aus bequem über jede Grenze
gehen. Keiner hält ihn auf. Der muss sich doch nicht zu Fuß über die Alpen
schlagen wie Hannibal mit seinen Elefanten. Das ist ja auch nicht gut gegangen
damals.
    Von Reichenberg verlässt das Zimmer. Auf dem Gang gibt er einem
spontanen Impuls nach und tritt mit dem linken Schuh gegen die makellos weiße
Wand des Designhotels. So, jetzt geht’s ihm besser. Einen Teil seiner
Anspannung ist er los, und er fühlt sich gleich wohler in seiner Haut. Wenn der
Rezeptionist oder ein anderer Hotelangestellter den Abdruck seines Schuhs an
der Wand entdeckt, ist er längst verschwunden. Aber er hat ein Souvenir hinterlassen,
für dessen Beseitigung der Maler geholt werden muss.
    Als er am Nachtportier vorbei Richtung Fahrstuhl geht, tippt er sich
an die Stirn und weiß, dass dem Dunkelwangigen ein Stein vom Herzen fallen
wird, wenn er weg ist. Wahrscheinlich habe ich dich viel schneller vergessen
als du mich, denkt von Reichenberg.
    Die Aufzugtür öffnet sich. Berchtesgaden. Und wenn dieser Hund mich
einfach auf eine falsche Fährte lockt?
    Zu Hause sucht von Reichenberg zuallererst seine Lesebrille. »Mandy?«,
ruft er. Wo ist dieses Weibsstück schon wieder?
    Er setzt sich mit Brille an den Küchentisch. Dort liegt ein Zettel
von seiner Frau. Sie ist in der Flamingo-Bar. Linda ist krank geworden und
fällt im Service aus.
    Von Reichenberg sieht sich den Kartenausschnitt auf dem Ausdruck an.
Irgendwo muss doch hier noch sein alter Diercke-Schulatlas herumfahren.
Berchtesgaden. Zwei Gipfel sind beschriftet. Lateinische Schrift. Was heißt
denn das? Hoher Güll? Zweitausendfünfhundertzweiundzwanzig. Und der Gipfel
daneben? Tausendachthundertzwanzig. Ein Kreuzchen. »Kehlsteinhaus« kann er
entziffern. Das hat er schon mal gehört. Ein Haus als Geburtstagsgeschenk für
Hitler, der da oben in Lederhose mit seinem Schäferhund herumspazierte.
Alpenfestung.
    Von Reichenbergs Hirn kommt allmählich in Fahrt. Wackelige
Sechzehn-Millimeter-Farbfilme laufen vor seinem geistigen Auge ab: der Führer
in kurzen Hosen, Böllerschützen mit Gamsbärten an ihren Filzhüten, in die Luft
gereckte Arme, Hunderte, Tausende, eine Bergkulisse im Hintergrund. Berchtesgaden.
Was zum Teufel will Wiktor dort? Für die hunderttausend Eier kann er

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