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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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Abendessen. Er hat uns dann allen die Hand geschüttelt und gefragt,
wie die Verpflegung wäre und ob wir einen Grund zur Klage hätten. Dann konnten
wir ihm erzählen, ob die Wärter wieder einen von uns erschossen oder zu Tode
geprügelt hatten.«
    Der Kommandant wurde so wütend, dass er den Raum verlassen musste.
Am nächsten Morgen wurde Alexej auf einem Lkw Richtung Westen in ein Lager
gebracht. Es hieß Föhrenwald und lag an der Isar, südlich von München.
    Als er im Lager ankam, waren schon mehr als fünftausend Menschen da,
überlebende Juden, Zwangsarbeiter und politisch Verfolgte. Alexej musste sich
ein Bett mit Isaak teilen. Isaak wollte am liebsten sofort in einen Kibbuz nach
Palästina, durfte aber nicht, und Alexej wollte auf keinen Fall weg von
Deutschland, musste aber. Er ging ins Büro des Lagerkommandanten, um sich gegen
seine Repatriierung zu wehren. Als er ein bisschen lauter wurde, kam die
Militärpolizei. Sie schlugen ihm beinahe einen zweiten Backenzahn aus, aber
wenigstens wollten sie ihn nicht erschießen.
    Jede Nacht, bevor er einschlief, zeichnete er in Gedanken an seiner
Schatzkarte. Er traute sich nicht, sie im Lager auf Papier zu zeichnen. Dort
waren zu viele, die sie ihm wegnehmen konnten. Also zeichnete er nur in
Gedanken, und wenn es noch so anstrengend war, um ja kein Detail zu vergessen.
Das Wichtigste war die Stelle, an der man aus der Höhle hinaus ans Tageslicht
gelangte, denn wenn man nicht an der richtigen Stelle in den Trichter stieg,
hatte man kaum eine Chance, die Höhle zu finden.
    Einmal malte er mit einem Stock im Freien sitzend den Weg hinauf auf
den Berg und zur Höhle in den Sand, als ein Offizier vorbeikam und ihn
ansprach: »Sie waren doch Arbeiter in Berchtesgaden.«
    »Nein«, log Alexej, »Sie müssen sich irren.«
    Der Ami ging weiter, und nichts geschah, außer dass er drei Tage
später neben Nicolai im Zug nach Kiew sitzt.
    Nachdem er die Befragungen durch die Kommissare, den Geheimdienst
und die Polizei überstanden hat, darf er das Lager für Kriegsgefangene und
Heimkehrer verlassen und sich eine Wohnung in der Stadt suchen, in der alles
kaputt ist und wo niemand weiß, was er am nächsten Tag essen soll.
    Vater, Mutter und Geschwister findet er nicht mehr. Einige seiner
früheren Nachbarn und Verwandten behaupten: »Die Deutschen haben sie
erschossen.« Andere sagen hinter vorgehaltener Hand: »Sie sind nach Sibirien
verschleppt worden.« Sie sind jedenfalls nicht mehr da. In der alten Wohnung
leben jetzt andere Menschen, und so geht er auf die Kommandantur und lässt sich
eine Arbeit in einem Lager für deutsche Kriegsgefangene zuweisen. Dort hat er
wenigstens eine Baracke, in der er schlafen kann, etwas zu essen, und manchmal
unterhält er sich mit den deutschen Gefangenen.
    In dieser Zeit zeichnet er die Karte, sehr genau und mit den deutschen
Bezeichnungen für die Berge, Pfade und Hütten. Es gibt einen Soldaten aus dem
Berchtesgadener Land, den er immer wieder nach den Orten fragt. Doch von der
Höhle, dem Stollen und dem Schatz erzählt Alexej niemandem, außer viele Jahre
später seiner Frau, als ihm längst klar ist, dass er den Schatz niemals mehr
sehen wird. Er denkt, er könne die Karte vielleicht einem seiner Enkel
anvertrauen. Aber nach der Reaktor-Katastrophe sieht und hört er von seinem
Sohn, der Schwiegertochter und den Enkeln so gut wie nichts mehr. Und dann, als
er alt und sehr krank ist und die Hoffnung schon fast aufgegeben hat, lernt er
Luba kennen.
    Die Frau auf dem Motorrad bringt ihnen bei ihrem nächsten Besuch
Medikamente, Lebensmittel und die eine oder andere Leckerei mit. Und als er
weiß, dass er sterben wird, sagt er zu seiner Frau: »Gib die Karte Luba.
Vielleicht gelingt ihr, was ich selbst nie geschafft habe. Und vielleicht kann
ich ihr sogar dabei helfen.« Und als seine Frau ihn fragt, wie er das denn
anstellen wolle, gibt Alexej keine Antwort, und Mila sieht ein Leuchten in
seinen Augen, als wüsste er mehr als sie und sei sich seiner Sache sehr sicher.

Berchtesgaden, 29. Mai 2010
    »Украïна« steht auf dem blauen Pass, den Leni aus dem Deckelfach des
Rucksacks zieht.
    »Украïна?«, fragt sie, während sie auf den Hubschrauber warten.
    »Das ist kyrillisch«, antwortet Meik Lebow, der in Erfurt noch Russisch
in der Schule gelernt hat.
    »Ja, das ist mir auch klar, aber welches Land?«
    »Ukraine.«
    Leni schlägt den Pass auf. Die Einträge sind freundlicherweise in
kyrillischer und lateinischer

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