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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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Marjana klammert sich an die
Sitzbank, als ersetze sie ihr den fehlenden festen Boden unter den Füßen. Sie
hat gar nicht gewusst, dass ihr die Höhe Probleme macht. Beim ersten holprigen
Passieren eines Stützmasten verliert sie fast die Nerven. Sie zwingt sich
hinauszuschauen, und es hilft.
    Unter sich erkennt sie den großen Parkplatz, dann das vordere Stück
des grünen Bergsees und dahinter, einen Wiesenhang herabstürzend, den Eiskanal
der Bobbahn. Das Dorf Königssee unter ihr besteht aus frei stehenden,
gepflegten bäuerlichen Anwesen aus Stein und Holz; an den geschnitzten Balkonen
hängen üppig befüllte Geranienkästen. Gepflasterte Einfahrten führen zu gediegenen
Doppelgaragen. Alles ist so sauber, dass sie befürchtet, ein aus dem geöffneten
Fenster der Gondel geworfenes Kaugummipapier könnte eine Verfolgung durch einen
Polizeihubschrauber hervorrufen.
    Die Wiesen sind saftig, die Wälder dicht, die Berge rundherum sehen
aus wie blank geputzt. Der mächtigste Bergkoloss ist der Watzmann, den erkennt
sie inzwischen sicher. Seine tausendachthundert Meter hohe Ostwand sieht aus,
als habe jemand Kalkblöcke aufeinandergesteckt wie Legosteine.
    Das Erreichen und ruckelige Durchfahren der Mittelstation ist noch
einmal ein kritischer Punkt, aber Marjana reißt sich zusammen und bemüht sich
sogar, ein freundliches Gesicht zu machen, als ein Helfer ihre Gondel in die
Gipfelbahn bugsiert.
    Als sie in der Bergstation ankommt, ist Marjana durchgeschwitzt und
bleibt wie gelähmt sitzen, nachdem die Tür aufgesprungen ist. Erst als ihr
jemand zuruft: »Jetzt sollten S’ aber langsam ans Aussteigen denken, sonst
geht’s wieder runter, und passen S’ auf, dass mit dem Seil nirgends hängen
bleib’n«, springt sie aus der Gondel.
    Wiktor und Luba stehen schon mit Bertl am Ausgang.
    »Was war denn los? Ich dachte, du warst direkt hinter uns, wieso
kommst du erst jetzt?«, fragt Luba.
    »Ach, da gab’s irgendwelche Probleme mit meinem Ticket. Müssen wir
jetzt hier raus- und von der Station weggehen?«
    »Eigentlich schon«, sagt Bertl, »weißt, von der Bergstation gibt’s
halt keinen direkten Zugang zur Höhle. Da hinauf gibt es keine Seilbahn.«
    Marjana starrt ihn an.
    »Ach geh«, sagt der Bergführer, »war doch nur ein Scherz. Jetzt schau
nicht so g’schreckt. Ich würd vorschlagen, wir gehen jetzt einfach los, seid’s
einverstanden?«
    Er marschiert voran, die drei stapfen hinter ihm her. Breit wie ein
Bürgersteig führt der Weg vom Jenner hinüber zum Stahlhaus. Zuerst geht es
hundert Meter bergab, dann steigt der Weg wieder leicht an. Nach vierzig
Minuten sind sie am Stahlhaus. Es empfängt sie ein irischer Setter, der die
Kühe auf der Weide anbellt. Mitten durch die Kuhweide hindurch verläuft die
Staatsgrenze, markiert durch zwei Schilder mit dem bayerischen und dem
österreichischen Staatswappen.
    »So, jetzt geht’s auf«, sagt Bertl. »Da müssen wir rauf.« Er zeigt
auf die Felswand, die hinter der mit Holzschindeln bedeckten Berghütte aufragt.
    »Wir machen jetzt erst einmal Pause«, sagt Marjana. »Wir sind ja
nicht hier, um den Herzsekundentod zu sterben. Ich brauche erst mal eine
Stärkung, sonst falle ich um.« Sie setzt sich an einen der Tische auf der
Terrasse, nimmt einen Schluck aus einem Zinnflachmann, den sie im
Souvenirgeschäft in Berchtesgaden gekauft hat, zündet sich eine Zigarette an
und bestellt beim Hüttenwirt einen Cappuccino.
    »Wollt ihr nichts?«, fragt sie die anderen.
    Bertl starrt sie fassungslos an. Luba sagt: »Mensch, Marjana, wir
müssen noch ein ganzes Stück weiter.«
    »Das fängt ja gut an«, brummt Wiktor.
    »Finde ich auch«, sagt Marjana. »Wir können es uns doch leisten. Wir
gehen gleich ganz gemütlich auf diesen Berg hinauf, seilen uns ein bisschen ab
und kommen dann wieder zurück. Und wenn wir heute nicht mehr als zwei Meter
Seil schaffen, dann ist das eben so. Dann lernen wir wenigstens, wie wir die
richtigen Knoten machen oder so.«
    »Du hast sie doch nicht mehr alle«, sagt Wiktor. »Wer weiß, wer
schon alles hinter uns her ist, und du tust so, als hätten wir bis zum ersten
Schneefall Zeit, die richtige Höhle zu finden. Trink aus, bezahl und mach dich
auf die Socken, bevor ich handgreiflich werde.«
    Hinter der Hütte geht es drei- bis vierhundert Höhenmeter ziemlich
steil bergauf. In zwei Stunden ist man normalerweise oben am Hohen Brett, doch
Marjana bleibt alle dreißig Meter stehen, fragt wie ein quengelndes Kind: »Wie
lange dauert

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